Noch immer liegt die Glut unter der Asche

Ich erinnere einige Sommer in einer Zeit, in der ich noch wuchs. Das ist weniger lange vorbei als es klingt. Wir diskutierten – ohne zu wissen, dass das einige Zeit später relevant werden würde – wie man sich sieht und findet von den unterschiedlichen Enden der Welt. Wir verteilten uns; jedenfalls war das der Plan. Wir waren der Meinung, man trägt die anderen stets bei sich, egal wie oft wir uns sehen und egal, wo einer ist. Mir schien diese Erkenntnis beruhigend und schmerzhaft zugleich, weil wir keinen Grund hatten, gemeinsam zu bleiben. 

Gehe nicht auf alten Spuren, beweinte nicht, was längst beweint
Lecke nicht die alten Wunden, vielleicht warst du niemals gemeint
Zähle nicht die toten Stunden, es zählt nicht, was du nicht geliebt
ersehne dir nicht alte Lieben, vielleicht wart ihr niemals vereint

Da ist G., mit dem ich alle sechs Monate telefoniere, und T., die ich ebenso selten höre. Sogar vom wunderschönen Mädchen weiß ich gerade nicht, wo sie ist, nur was sie plant und wo wir uns treffen, am Dienstag vielleicht, zweihundert Kilometer von hier.

schatten

Da ist G., den häufiger anzurufen ich mir doch täglich vornehme. Ich muss auf mich aufpassen, die Kurve zu kriegen. Es passiert etwas, das mir nicht gefällt, es findet eine Veränderung statt, eine Entwicklung, die ich erkenne an mir. Ich verstehe schließlich seine Chansons.

Wenn der Mond sich füllt, bin ich wieder fort
Wenn der Mond sich füllt, bin ich auf dem Weg
Wenn der Mond sich rundet, bin ich abgehauen
So ist es immer

Als ich gestern Nacht nach Hause kam, fand ich auf dem Küchentisch einen Kompass. Du hättest etwas anderes zurücklassen können auf Deinem Weg durch die Alpen.
Das zeigt, dass wir uns verstehen.

– Peryton

Ein Mädchen, kaum 12 Moden alt

Vielleicht kommt irgendwann einer wie ich aus dem Alter heraus, in dem einem wie mir das Zugfahren Entspannung und Glück bedeutet. Im Moment sage ich mir »endlich« und »geht es wieder los«. Ich sehe die Anrufe auf meinem Handy und traue mich nicht heranzugehen, weil ich weiß, wie es um die Netzdeckung bestellt ist. Ich rufe zurück – Wenn Du das liest – wenn ich wieder festen Boden oder den Füßen spüre. Wenn ich lande, wenn die Ladung gelöscht ist.

Die alte Zuverlässigkeit

Und ich hatte mir vorgenommen, öfter zu schreiben. Ich hatte mir vorgenommen, morgen früh mit dem Rad über die Berge zu fahren. Nun fahre ich am Montag mit dem Auto oder dem Zug, es hat seine Gründe und so ein Berg läuft nun auch einmal nicht weg. Ich habe die letzten vier Stunden aus dem Fenster geschaut, bin an Industrieruinen vorbeigefahren und habe an Bahnhöfen gehalten mit euphemistischen Namen. Drüben im IRC beschwert sich einer über seine langsame DSL-Verbindung zu Hause; ich werde antworten im nächsten Bahnhof, dass es entspannend sein kann, wenn man darüber nicht im Moment telefoniert.

Widmung

Oder Fotos in seinen Blog laden möchte. Aus dem Zug. Zwei Stunden vor seinem Ziel.

– t: Georg Christoph Lichtenberg

Scènes de la vie privée

Auf wirres.net wird deutlich, dass Groupon das Wasser bereits bis zum Hals steht. Bei allem Respekt: Das finde ich beruhigend. Ich finde es beruhigend, dass sich die Menschen um mich herum doch nicht auf alles Billige stürzen und dass es offenbar doch nicht so viele Unsympathen gibt wie befürchtet; denn bisher waren die ich kenne das alle, die schwärmen von den Angeboten und Schnäppchen. Zweieurofünfzig an der Currywurst gespart!

Englischer Garten

Vor einiger Zeit bekam ich von einer großen Bank eine Einladung zum Beratungsgespräch und hauptsächlich aus dem Bedürfnis heraus schnell zu fliehen, einen Riestervertrag. Einige Monate später sah ich das Carbon-Rennrad, rechnete kurz nach, welchen Betrag ich bisher eingezahlt hatte und ging bald mit dem Fahrrad nach Hause und war wieder ohne Vertrag. Ungefähr zu dieser Zeit habe ich alles gekündigt, was ich bei der Bank besaß und zog zu einer neuen, mit kleineren Filialen, weniger Geldautomaten und einer Kreditkarte mit Jahresgebühr. Mein Sparbuch habe ich vor Jahren verloren wie die meisten Aktien bei einer Enteignungsaktion. Für eine Carbon-Kurbel und einen neuen Laufradsatz hat es trotzdem gereicht.

Isarbrücke

Ich mache mir seit Jahren keine Gedanken darüber, was man mit Geld alles sonst machen kann. Es wäre auch schade, ständig mit einem Sparplan im Kopf durch dem Englischen Garten radeln, fast täglich durch das Maisfeld, und ab und zu auf der Bank unter dem Marterl in die Abendsonne zu blinzeln und die Vorbeiziehenden freundlich zu grüßen. Mir widerstrebt, vorüber zu rasen und die Isar hinunter zu stürzen, wegen der Öffnungszeiten einer Bankfiliale am Marienplatz und eines Beratungsgesprächs.

Marterl

Ich glaube, in Zeitschriften wie Capital oder Money steht, man sollte sich kümmern. Und Groupon möchte Werbung auf Webseiten schalten. Mir ist das alles ziemlich egal. Das sollen die anderen machen. 

Le Spleen de Paris

P. nimmt mich in den Arm und versichert «Das sieht doch keiner». Ich glaube ihm kaum; blaue Mäntel auf einem Rennrad mit schwarz-rotem Rahmen, an dem alles schwarz-rot ist abgesehen von eben den Mänteln: Das muss jedem sofort ins Auge springen! Natürlich kann ich die Laufräder neu beziehen, ich habe neue schwarz-rote Mäntel im Keller, doch erstens ist dies nicht mein Laufradsatz und das zugehörige Fahrrad blau und zweitens warte ich täglich auf die Lieferung des neuen, leichteren Satzes, der mich die Berge hinauftragen wird. Später im Jahr, nächstes Jahr und die Jahre danach.

windless

Mein Großvater pflegt hin und wieder zu sagen, es sei keine Liebe mehr unter den Menschen. Manchmal lache ich darüber – wenn es mir gut geht – und manchmal frage ich mich, ob er die gleichen Bücher gelesen hätte in seiner Jugend wie ich vor einigen Jahren.

In der einen Hand halte ich den Urlaubsantrag, eine Woche Mitte September, und vor mir auf dem Bildschirm die eMail, ein Zimmer sei frei und das könne ich haben. Der Ort ist nicht weit weg, drei Stunden vielleicht mit dem Auto, wenn ich die Passstraßen nehme. Zwei Tage allein und drei Tage zu zweit, genug um einen Fuß auf den Boden zu bekommen. Ich werde in den Bergen warten. Ich habe Bergschuhe, eine Kamera und einen Vorsatz. Und ich habe eine Woche Zeit.

Bis nach Toulouse

Hinauf auf die Berge und auf der anderen Seite hinunter.

Ein Freund, der glaub ich Testbild hieß

Er so: «Warst Du im Urlaub? Die Bilder sahen so aus.»
Ich denke, er trifft den Nagel doch auf den Kopf, verwechselt aber Ursache und Wirkung. Ich muss dringend, ich fühle mich so. Um mich herum fahren sie nach Amsterdam oder nach Prag und kommen gutaussehend nach Haus‘ – ich treffe sie vor der Kaffeemaschine, wo ich meine Augenringe ersäufe.

Ich so: «Ich war lediglich ein paar Tage nicht online und so gut es ging auf dem Rad.»
Ich habe heute morgen meine Premiummitgliedschaft in einem dieser Business-Netzwerke gekündigt. Irgendwann vor etlichen Jahren war ich überzeugt, es wäre wichtig, doch wenn ich mich heute monatlich einlogge, ist das schon oft. Es gab genau einen Moment, in dem ich das Netzwerk vor Freunden rechtfertigte ein paar Monate lang. Irgendeiner hat mir dann hier unten gezeigt, wie es geht und was besser funktioniert als ein soziales Netzwerk im Netz. Das mit den Kontaktdaten funktioniert auch eher leidlich in einem Land, in dem man sich unter Pseudonym anmeldet, damit niemand wen findet und wenn schon, dann bitte ohne irgendwelche Information.

Wildsau

Und weiter: «Hier unten sieht alles so aus.»
C. erzählte mir, er sei für ein paar Tage in Bayern gewesen und irritiert, dass der Heiland an jeder Kreuzung angeschlagen steht. Es ist, antworte ich, ein wenig wie mit dem Elend bei Dir in Berlin: An was man ständig sieht gewöhnt man sich bald, es fällt irgendwann nicht einmal mehr auf. Er wendet ein, in Berlin leben sie noch und ich entgegne, auch hierin sind wir in Bayern einen Schritt weiter.

Im Park

Man muss sich hochwohnen, sagte mir einer damals in Marburg und ich reklamierte, vom ersten in den dritten Stock gezogen zu sein. Von dort oben sieht man nur München. Hier unten jedoch kennt man irgendwann die Ufer der Seen. Ich mag mich durchaus nicht beklagen, es ist nur so, man wird ja doch irgendwie alt.

Vittoria!

Die Schlagzeilen schreiben, die Zielsetzung bezüglich der Anzahl olympischer Medaillen sei viel zu hoch und unrealistisch obendrein. So ist das eben in einer leistungsorientierten Wertegesellschaft, wie sie von Politik und Wirtschaft propagiert und durchgesetzt wird. Da geht es nur um Planerfüllung und das Einhalten irgendwelcher Kennzahlen, da geht es um Sanktionen und Malus-Punkte, die bei steuerfinanzierten Leistungssportlern sicherlich andere Auswirkung haben als bei eigenverschuldeter Arbeitslosigkeit in Folge der Kündigung eines unpassenden Arbeitsverhältnisses. So ist das, man muss sich nur einrichten darin.

Hasenbergl

Ich kann die Gewinner der Leistungsgesellschaft jeden Abend sehen, wenn sie in der Schlange vor unserer Eisdiele stehen und ich kann sie hören, wenn ich im Keller Laufräder montiere, Ketten öle oder mich sonst um die Räder kümmere, auf denen ich die fünfzehn Kilometer ins Büro in gut einer halben Stunde schaffe. Es gibt Stimmen, die ich wiedererkenne, die vielleicht täglich in gebrochenem Italienisch ihre Begleitungen zu beeindrucken suchen, für einsdreißig je Kugel Basilikum-Zitrone oder Italienischer Kuss.

Nymphenburg

Die Einen verlangen 86 Medaillen, andere ständig mehr Umsatz und Wachstum und die Übrigen fordern Chinesischlernen mit zwei. Unter uns: Chinesisch für was? Für die Montageanleitungen der Ersatzteile muss ich Italienisch verstehen wie auch für den Weg nach Meran vorbei am Tegernsee und hinauf über Brenner und Jaufenpass. Und draußen im Wald, an den Ufern des Flusses, reichen die Brocken der Sprachen, die ich erinnre. Vielleicht weil kein Porsche auf die Feldwege passt und die Leistungsväter und -mütter ihre Brut in SUVs zum nächsten Tennisclub fahren. Zu einem Muttersprachler. Man weiß ja nie.

Wir, die uns nach Kräften mühen

Ich antworte stets, dass ich gern wohne, wo wir wohnen. Einzig der Weg aus der Stadt, der in jeder Himmelsrichtung nicht weniger als eine halbe Stunde in Anspruch nimmt, trübt das Bild dieser Lage. Ausnehmend oft vergesse ich dabei, dass ich zwanzig Minuten brauche in dieses Café in dem ehemaligen Gewächshaus des Schlosses, einhändig und ohne mich groß zu bemühen.

Schloss Nymphenburg

Gut drei Stunden hingegen benötigt man bis hinunter an den See. Etwa die Hälfte der Zeit habe ich am Sonntag gebraucht bis in den Schatten jener Kirche, in dem ich auf einen Freund wartete, der mich abholte und mir einen Satz neuer Laufräder lieh. Er fährt ein italienisches Auto älterer Bauart, das wenig später vor der Konditorei nicht mehr anspringen wird. Und ich erinnere seinen Satz, einen Defekt am Auto oder am Rad stets als Chance zu sehen auf Veränderung, eine Änderung des eigenen Lebens. Durchaus, ich hätte die Speiche an einem anderen Berg verlieren können und nicht an diesem Kirchberg, der mir den Aufenthalt angenehm macht. Sonntags, irgendwo im Süden von München.

Endlhausen

Das Auto bringt uns endlich doch auf seine Terrasse, wir genießen Torte am Fuße der Berge und fahren später auf dem Rad diese Strecke am See, entspannt an den Kolonnen der Autos vorbei, die Richtung München zur Autobahn drängen. 

Ich weiß nicht, ob ich alt genug wäre für ein Leben dort. Wahrscheinlich. Doch ich genieße unsere Wohnung, die Lage und die Museen. Wenn ich die Münchner satt habe vor unserer Wohnung, flüchte ich diese zwanzig Minuten in das Gewächshaus, einhändig, das zerbrochene Laufrad in der anderen Hand – es dem Radladen zu bringen – auf einem geliehenen Satz.

Sonnenuntergang am Tegernsee

Am Sonntag trugen wir Eddy-Merckx- und Campagnolo-Trikots und fuhren teure italienische Rahmen. Das wunderschöne Mädchen, ohne Click-Pedale und in Jeans, ließ uns am ersten Berg buchstäblich stehen.

L’Enfer du Nord

Paris-Robaix. L’Enfer du Nord oder auch La Reine des Classiques, je nachdem. Man muss sein Fahrrad ganz schön hassen, es über diese mehr als 250 Kilometer zu jagen, 50 Kilometer davon grob gepflastert. Oder die L’Eroica: Das Herz blutet, wenn sich die Wahnsinnigen auf alten Colnago- oder Gios-Rahmen die Schotterpisten hinabstürzen – nicht nur wenn man weiß, was sie kosten. 

Lenker

Wir hatten einen Abend lang eine Diskussion über Erwartung und Enttäuschung. Irgendwann vor etlichen Jahren sagte T. zu mir, ich müsse lernen, nichts zu erwarten und P. fragte mich letztens, wie das funktioniert. Ich weiß die Antwort bis heute nicht auf diese Frage, ich weiß nur, dass es sich lohnt.

Vielleicht trage ich sogar das maillot blanc in dieser Disziplin: Ich gebe auf, meine Radtouren zu planen und beschränke mich auf die Entscheidung Nord oder Süd, vielleicht hin und wieder den Ort. Den Rest überlasse ich dem Fahrradcomputer, den ich nicht verstehe, der mich über wilde Schotterpisten treibt oder auf Pfaden durch den Wald. Seit mein Radhändler, dessen bester Kunde ich bin, mir die Hand auf die Schulter legte und sagte, man können diesem Rahmen vertrauen, folge ich der Entscheidung dieses Gerätes in den meisten Fällen entspannt.

Heute stand ich dann irgendwann vor einem Schloss, irgendwo im Norden von München, in einem menschenleeren Park. Auch wenn ich nicht dort war, wohin ich eigentlich wollte, war das ein schöner Moment.

Schloss

Manchmal nach solchen Passagen lege ich meinem Rad die Hand auf den Rahmen und versichere ihm, es könne mir vertrauen. Uneingeschränkt.

Zu guter Letzt

Ich werde nicht wach wegen des Regens, ich werde wach wegen einer SMS morgens um sieben, die kündigt von frühem Besuch wegen etwas, das ich gestern vergaß. Es sind die Eltern kleiner Kinder, es ist unser Rhythmus, der kollidiert. Ein paar Stunden später – denn natürlich dauert es länger – lächle ich tapfer und bin tatsächlich so etwas wie dankbar.

A. erzählte mir gestern, nur in Unterhose gekleidet, sie hätte eine Fliege aus dem Wasser des Stadtparks gerettet. Und dann auf ihrem Bauch zerdrückt. Ich wende ein «Aber, …» während sie bereits antwortet «Doch.»

Während das wunderschöne Mädchen den Abend an einem Lagerfeuer verbringt, sortiere ich neue Bücher in das Regal. Ich lese mich fest in einem Gedichtband von Fried und gehe viel zu spät ins Bett.

Irgendwann in der Nacht muss es begonnen haben zu regnen.

 

Als Kind wusste ich:
Jeder Schmetterling
den ich rette
jede Schnecke
und jede Spinne
und jede Mücke
jeder Ohrwurm
und jeder Regenwurm
wird kommen und weinen
wenn ich begraben werde

Einmal von mir gerettet
muß keines mehr sterben
Alle werden sie kommen
zu meinem Begräbnis

Als ich dann groß wurde
erkannte ich:
Das ist Unsinn
Keines wird kommen
ich überlebe sie alle

Jetzt im Alter
frage ich: Wenn ich sie aber
rette bis ganz zuletzt
kommen doch vielleicht zwei oder drei?

— Erich Fried

Wir kommen um uns zu beschweren

Der letzte Eintrag ist vom 7. Juli. Beinahe drei Wochen her, das war eigentlich anders geplant, doch manchmal passieren Dinge und andere stehen zurück. Ich habe seit dem 7. Juli kein Buch mehr gekauft, beispielsweise.

Ich habe keine Fotos aus London und Oxford, keine aus der sauerländer Abtei und ich erinnere Amsterdam nur vage, wie das Meer und die Berge.

Nordsee

G. fragte mich vor etlichen Jahren, wann es mir endlich wieder einmal schlechter geht, dann schriebe ich besser. Er lachte dabei und ich lachte auch.
Trotzdem: So gesehen geht es mir also deutlich zu gut.

Es ist nur manchmal ärgerlich,
dass ich so müde bin.

— TocotronicÂ