Fuck you very much!

Der Norden ist ein elendes Loch. Es gibt Tage, da steige ich bei Sonnenschein auf das Rad und kurz nach der nördlichen Stadtgrenze, kurz hinter dem Straßenstrich unter der Autobahnbrücke, beträgt die Sichtweite nur noch zweihundert Meter. Entgegenkommende Autos erzählen vom Regen und ich nehme mir vor, nie in meinem Leben in den Münchner Norden zu ziehen. Allein deshalb, weil sich die besten Konditoreien im Süden befinden.

Rennradstrecken

Wann immer ich kann, fahre ich deshalb in den Süden, wie letztes Wochenende, unterwegs auf einer Runde, die mich zu insgesamt vier Seen geführt hat. Weil ich auf dem Markt war, kam ich einigermaßen spät auf die Strecke, weil ich auf dem Markt war, musste ich zügig in Richtung Südwesten fahren und allein weil ein Freund nicht zu Hause war, von dem ich mir nach zwei Dritteln der Strecke einen Kaffee erhoffte, kam ich nicht in die Nacht. Ich vergesse immer, wie zeitaufwändig die Fahrt durch die Stadt ist und habe doch stets in Gedanken, dass diese Seen vom Norden aus zwar nicht vollständig unerreichbar, doch komplizierter zu besuchen sind.

Ammersee

Es war die erste Fahrt seit langem, auf der ich mein Telefon ausgeschaltet habe, die erste auch in dieser Länge, die ich insgesamt ohne Kopfhörer und Musik absolvierte. Ich wollte nachdenken und in jenen Momenten, in denen ich nicht auf die Uhr schaute (Der Kaffee! Die Nacht!) habe ich dann über die Schlagzeilen gelacht, mit denen große Medien das Recht auf Unerreichbarkeit vermelden, das BMW seinen Mitarbeitern einräumen möchte.

Das Rad im Feld

Ich wiederhole zur Sicherheit noch einmal: BMW möchte seinen Mitarbeitern ein Recht auf Unerreichbarkeit einräumen. Sollte man sich dafür bedanken? Wie assimiliert muss man sein vom Wirtschaftssystem, dieses Recht nicht als bereits und selbstverständlich gegeben zu nehmen, und zwar nicht von eines Wirtschaftsunternehmens Gnaden, das eine Familie auf dem Rücken zahlreicher Arbeiter reich gemacht hat, die dann selbst unerreichbar geworden ist im wörtlichen Sinne außer für billige Gigolos in Edelhotels?

Hinter dem See

In was für einer Presselandschaft leben wir eigentlich heute, wenn alle großen Zeitungen dies drucken als eine Neuigkeit, die den Platz auf den Titelseiten wert ist? Ich habe nicht einen Kommentar gelesen – ich hoffe sehr, ich war unaufmerksam – in dem sich jemand über dieses Verständnis echauffiert. Ich möchte mit solchen Menschen nicht leben, denen dieser Zustand, aus dem uns die Firma (endlich!) befreit, als natürlich erscheint.

Die Alpen

Fuck you very much!

Plateau au Chocolat

Gestern bin ich im Stadtcafé gewesen. Während sich draußen der Himmel über der sich zu Ende neigenden Sicherheitskonferenz zusammenzog, die Polizeibrigaden langsam Richtung Heimat aufbrachen und sich die wenigen Touristen, die in das Stadtmuseum fanden, die Kapuzen über den Kopf und in Richtung Marienplatz zogen, saß ich innen an einem furchtbar kleinen Tisch und habe einen Plateau au Chocolat gegessen. Das war die Wiederversöhnung mit Frankreich, die eine unvorbereitete Konfrontation mit einer einen neonfarbenen Bügelkopfhörer tragenden französischen Dame nötig machte. »Machen Sie was sie wollen, das hier ist nicht mein Kulturkreis« fauchte sie, als ich fragte, ob sie etwas dagegen habe, wenn ich mich setze. Sie fügte hinzu, dass sie auf jemanden warte und verließ das Café zwanzig Minuten später allein.

Kuchen

Vorgestern in einem anderen Café hielten die Rentner respektvollen Abstand. Vielleicht, weil wir drei oder vier Stunden gewandert waren und tatsächlich so aussahen. Vielleicht auch, weil man dort vornehm-höflich ist und nicht rabiat-direkt. Vorgestern nämlich war ich unten am See. Nicht mit dem Rennrad, dafür war es in München zu kalt. Eine Stunde weiter südlich hatte die Sonne jedoch die Wolken verdrängt und je höher wir stiegen, desto wärmer wurde uns.

Neureuth

Auch weil ich nicht die Zeit hatte, hat sich die Anreise mit dem Fahrrad zerschlagen. Die einfache Strecke beträgt etwas mehr als siebzig Kilometer, wofür man vielleicht drei Stunden benötigt, weil man dabei halb München durchqueren muss. Hätte ich das Rad genommen, wäre keine Zeit geblieben für die Spinatknödel auf der Hütte, die schon so oft das Ziel waren und wir immer eine halbe Stunde zu spät. Es wäre erst reicht keine Zeit geblieben für den Baumkuchen in der Konditorei, der hier eine Marzipanrinde trägt. Für diesen Kuchen macht man keinen Gefangenen, steht man vor der Wahl.

Kino

Natürlich gibt es auch in München nette Versuche mit dem Baumkuchen vom See zu konkurrieren, das Plateau au Chocolat ist davon nur einer. Dennoch haben das wunderschöne Mädchen und ich lose verabredet – noch während des Aufstiegs, die Knödel vor Augen – dass wir in einigen Jahren umziehen werden in eine dieser Regionen fernab der Stadt.

In eine dieser Regionen mit einer Konditorei am Ufer des Sees.

Seeufer

Januar 1972

Mit dem Rennrad?
Sind Sie sich sicher?

Worte eines vorbeikommenden Wanderers im Wald

Google kann ja jetzt Wettervorhersagen und wenn man »Wettervorhersage München« eingab in den vergangenen Tagen, erschien für Sonntag zumindest kein Regensymbol. Da mein Winterprojekt in den letzten Zügen liegt, das nach der Transalp in Italien gekaufte Rennrad (Belohnungsprinzip!) nun fahrbereit ist und wegen der beinahe frühlingshaften Verhältnisse denke ich seit Tagen an den vergangenen Sommer, das Alpenpanorama und die Fahrten hinunter zum See. Die lose Radverabredung in diese Richtung ist geplatzt, also habe ich mir eine Strecke herausgesucht in den Münchner Norden, mit vierzig Kilometern die richtige Länge, um das Fahrrad, die Laufräder und die komplett ausgetauschten Komponenten auszuprobieren.

Pannenbank

Irgendwann am Anfang des Waldes denke ich noch, dass dies für eine Rennradstrecke gewagtes Terrain ist, wende noch kurz, um ein Foto mit der alten nassen Holzbank zu machen und finde mich wenige Minuten später inmitten des menschenverlassenen Walds wieder auf dieser Bank, das Hinterrad auf den Beinen, einen neuen Schlauch in der Hand. Ein Wanderer passiert, wir kommen kurz ins Gespräch und ich sage noch, dass ich mit demjenigen Freund, der mit diese Strecke empfahl, ein ernstes Wörtchen zu reden habe. Ungläubig schüttelt er seinen Kopf, ob ich sicher sei? und lässt mich allein.

Zielbereich der Regattaanlage

Der künstliche See tut sich auf, sechs Holzzungen ragen in den Nebel hinein und wieder bin ich beinahe allein. Die Kälte zieht an den Beinen hinauf, während ich immer wieder nachpumpe, weil ich ein Vertrauensproblem habe, was neue Schläuche, vielmehr: was meine Handpumpe betrifft, auf die ich angewiesen bin bei einer Panne.

Regattaanlage

Der Norden zeigt sich von seiner unschönen Seite. Als Katastrophentourist halte ich oft und fotografiere noch öfter. Die Immobilienpreise sind wahrscheinlich trotzdem irrwitzig hoch und wer in der Stadt den Makler nicht bezahlen kann oder keinen astreinen Lebenslauf der Wohnungsbewerbung beifügt, landet wohl hier. Letzter Ausweg Hasenbergl. Der Nebel kriecht durch die Alleen und lichtet sich kaum, im Gegensatz zu den Straßen stadtauswärts sind jene im Norden nass als hätte es Minuten zuvor noch geregnet. Zwischen den Hochhäusern mit dem Charme einer nordkoreanischen Stadt führt eine alte Trasse die toten Gleise einer S-Bahn ins Nichts. Von hier aus sind es keine zehn Kilometer nach Haus.

Wohnturm

Tote Bahngleise

Was das Fahrrad angeht: ich verkaufe einen Satz Laufräder, renovierungsbedürftig. Falls jemand Jemanden kennt, falls jemand selbst Lust hat auf Basteln. Diese Laufräder finden sich – aus Gründen – nicht auf den Fotos. Und ich suche noch wen, der mir auf einer schöneren Tour noch Schlimmeres zeigt.

Die Mädchen hier tragen Fjällräven-Hosen

Ich weiß nicht, der wievielte Beitrag, die wievielte Liebeserklärung dies ist an das selbstverwaltete Café in Marburg, am Ufer der Lahn. Und dennoch habe ich sicher nicht alle Geschichten erzählt, die sich hier abspielten und deren Teil ich gewesen bin in jenen zehn Jahren, in denen es mich regelmäßig her zog und wohin ich nun so häufig ich kann zurückkehre, wenn ich diese Stadt besuche. Ich erinnere unsere gemeinsame Gesichte nicht mehr komplett, doch fallen mir einige Situationen, zahlreiche Stunde und zahllose Gespräche an den Tischen ein, die sich hier einander nicht gleichen: An diese zufällige Melange alter Möbel, die in den blitzenden, uniformen Oberstadt-Cafés keine Chance bekämen. Man hält sich hier die Unsympathen und Pöbler vom Leib, ein einfaches Prinzip führt dazu, dass nur wenige Studenten der Betriebswirtschaft und Juristerei dieses Café besuchen: Das Prinzip der Selbstbedienung.

Roter Stern/Café am Grün

Dieses Prinzip enttäuscht nicht nur die Erwartungen der serviceorientierten Karrierejugendlichen, sondern überfordert auch regelmäßig neue Besucher; man erkennt auf den ersten Blick, wer vorher noch nie im Roten Stern gewesen ist. Die sich auskennen erklären den Neuen, wie der Stern funktioniert und stehen im Wettlauf mit den wenigen Kollektivisten, die das Café betreiben. In der Vorweihnachtszeit fallen manchmal ältere Paare auf, die während des Einkaufens auf einen Kaffee hereinschauen. Ich habe noch nie einen Gesichtsausdruck bei diesen Menschen gesehen, der verriet, ob ihnen dieses Café, dieses Konzept praktisch oder unverständlich erschien. 

Roter Stern/Café am Grün

Um 19 Uhr schließt das Café am Grün, wie es offiziell heißt, und vielleicht auch deshalb wird Alkohol hier selten getrunken. Ich glaube, man bekommt tatsächlich Bier oder Wein, ich sah allerdings selten einen mit einem entsprechenden Glas. Wen ich stattdessen hier treffe sind zwei Professoren aus der Mathematik, zahlreiche Studenten der Biologie und die typische Kundschaft der politischen Buchhandlung, zu der dieses Café gehört, deren Mitarbeiter selbst zwischen der Siebträgermaschine und den Bücherregalen pendeln. 

Roter Stern/Café am Grün

Es gibt einige Gründe, die ständig genannt werden, wenn man sich mit jemandem treffen möchte und derjenige eine Alternative vorschlägt zum diesem Ort: Im Winter ist es oftmals kühl, doch wenn man gutbesuchte Tage erwischt, heizen die Menschen den Raum auf eine angenehme Temperatur. Den Filterkaffee als gut zu bezeichnen, braucht es einiges an Wohlwollen und der, die ich gestern hier traf, fiel auf, dass es statt Teppichen einen Fliesenboden gibt, was meine Bezeichnung des Roten Sterns als Wohnzimmer unterminiert. Was sie noch nicht verstand: Es sind für immer die Menschen, die Orte zu dem machen, was sie sind. Für mich ist es – und das wird sich wohl lange nicht ändern – mein Wohnzimmer, wenngleich in dieser WG, von jenen die auf seinen Couchen sitzen, längst nicht mehr alle hier wohnen, die ich noch kenne.

Le Cantate Italiane Di Handel

Es ist kalt geworden. Draußen toben die Weihnachtsmärkte, während sich drinnen Roberta Invernizzi durch die gesammelten Händel-Kantaten singt. Nebenan rauscht der Wasserkocher, in der Spüle blubbert das alte Wasser aus der Wärmflasche, die uns seit Jahren begleitet. Roberta Invernizzi habe ich mir damals auf dem Fahrrad gewünscht, weil ich das für eine stilvolle Einfahrt hielt, den Brennerpass hinab nach Sterzing, eine Triumphfahrt mir einem passenden Soundtrack. 

Roberta Invernizzi, La Risonanza, Fabio Bonizzoni - Le Cantate per il Cardinal Pamphili

Le Cantate per il Cardinal Pamphili hört man mit anderen Ohren, wenn man sich erinnern kann an den kurzen Aufenthalt im Familienpalazzo der Pamphilij, den wir während unserer Romreise besuchten, an die lichtdurchfluteten Gänge der Galerie, in der nicht nur zahllose Bilder hängen, sondern von der ein Durchgang in einen kleinen Raum führt, in dem des papstgewordene Familienoberhaupt der Pamphilij von Velázquez verewigt wurde. Natürlich ist man in diesen Gänge nicht allein, doch die Zahl der Besucher hält sich in Grenzen, wenn man Wochentags kommt. 

Roberta Invernizzi, La Risonanza, Fabio Bonizzoni - Le Cantate per il Cardinal Pamphili

Das sind schöne Erinnerungen, denen man im alten Ohrensessel nachhängen kann. Das Stövchen auf dem kleinen, aus dem Sperrmüll gezogenen Tisch gibt sein bestes, denn diese Momente können dauern, von Zeit zu Zeit einen ganzen Abend. Wenn der Gesang die Gedanken nicht im Buch liegen lässt, das man auf den Knien hält, wenn man lieber die Augen schließt und zuhört, statt das nächste Kapitel zu lesen.

Dieses Buch kann einem den Appetit verderben.

Wenn man nicht mehr weiter weiß …

Ich finde es gar nicht so einfach, einen Überblick über die momentanen Versprechen und Absichtserklärungen zu behalten, in welcher Weise man die Menschen gegen den Überwachung schützen will. Seit Monaten scrollen beinahe täglich Meldungen durch die Newsticker, dass wieder eine Million Telefone abgehört und Bewegungsprofile erstellt worden sind.

Aber das ist doch verboten!
Wir müssen die Gesetze verschärfen!
Wir protestieren AUF’S SCHÄRFSTE! 

Ähm ja. Drüben in der F.A.Z. beschreibe ich meine Sicht der Dinge.

Ein Leben wie Franzosen Auto fahren

Ich trinke nicht mehr häufig Kaffee. Im Büro steht eine furchtbare Kaffeemaschine; Ich bin mir nicht einmal sicher, ob diese Kaffeemaschine furchtbar ist, doch die Bohnen sind es, furchtbar und billig. Sie kommen in Fünf-Kilogramm-Tüten aus einem Internet-Shop, stets für mehrere Wochen, damit man die Versandkosten spart. Zeit, die nötig ist, um das billigste Angebot zu finden und den Bestellvorgang (kostentechnisch) zu optimieren, wird gern investiert, ebenso wie die Zeit in Diskussionen auf Mitarbeiterversammlungen, um zwei Euro mehr bei der monatlichen Pauschale herauszuschlagen, die wir von unserem Arbeitgeber einfordern können, um die im Homeoffice entstehenden Telefon- und Heizkosten zu decken.

Es fiel mir also einfach, keinen Kaffee mehr zu trinken von einem Tag auf den anderen, anfangs gar nichts zu trinken außer Säften und Wasser. Aber da Mittagsschlaf bestenfalls komische Reaktionen hervorruft beim Spießbürger und ich mich darüber hinaus in einem Arbeitsumfeld befinde, in dem man Individualisierungen wie Sitzsäcke, -ecken und Rückzugsorte selbst finanzieren muss, trank ich irgendwann schwarzen Tee.

Apfelstrudel und Tee

Heute trinke ich Kaffee vor allem noch in den Zügen. Ein Ritual, und immer wenn ich darüber nachdenke, erinnere ich einen Freund, mit dem ich zusammen studierte und der jetzt in Istanbul lebt. Ich vermied es lange, Rituale zu haben, in der Angst, zu erstarren und irgendwann ständig die gleiche Sorte Kaffeebohnen zu kaufen. Dann zog H. nach Istanbul und passte damit nicht mehr in das Schema, das ich so fürchtete. Er sagte schon zu Studienzeiten, dass ihm Rituale wie die morgendliche Süddeutsche Zeitung und dazu eine Tasse Kaffee wichtig seien, doch er war auch stets in der Lage, diesen Plot zu verlassen, wenn es einen Grund dazu gab: Wie häufig fuhren wir morgens im Halbschlaf durch die Stadt, um rechtzeitig zu einem Termin zu kommen… fast immer ohne Kaffee und die Zeitung. Den Kaffee gab es dann an der Uni – beziehungsweise das, was der Kaffeeautomat eben ausgab.

Auch Sommersprossen
sind Gesichtspunkte

Ich traf heute morgen im Wartebereich für Vielreisende am Wiener Westbahnhof einen älteren Herrn, als wir beide vor dem einzigen Kaffeevollautomaten warteten. Wir kamen ins Gespräch, weil er den falschen Knopf gedrückt hatte und der Automat keine Milch aufschäumen wollte. »Wissen sie« sagte er freundlich, »wir verlieren einige Sekunden, was macht das schon im Leben?« Denn: Wir warten hier sowieso auf den Zug.

Kaffee im Zug

Der Alte stieg in einen anderen Wagen, nicht ohne noch einmal zu winken. Mein Leben fällt in solchen Momenten stets aus jenem Rahmen, den ich einst fürchtete wie einen Bilderrahmen um Gemälde aus einer dicken Farbschicht aus Öl. »Einen Kaffee bitte, und zweimal Milch und zwei Zucker« bestelle ich bei einem der Kellner im Schnellzug nach Hause. »Also wie immer…« noch leise. Es lächelt und ich lächle zurück.

— t: Wolfgang Müller

Elektrische Frauen, die letzte Geißel der Menschheit

Ich weiß nicht wie lange es her ist, dass wir zusammen vor einem Schachbrett saßen. Als Kind war ich Mitglied eines Schachclubs, jedenfalls so lange, bis man uns den Tausch von Computerspielen verbot. Mein größter Erfolg war ein Sieg gegen einen der Lehrer, aber zum ersten Brett auf einem Turnier hat es nie gereicht. Doch darum geht es auch nicht, worum es geht: Ich starrte als Kind eine Stunde auf ein Brett voller Figuren ohne unruhig zu werden.

Pfützenmetaphorik

Als wir damals vor dem Schachbrett saßen, gelang mir das nicht mehr. Das Spiel war schnell vorbei; wer gewannt, weiß ich nicht mehr. Doch ich weiß noch die Qual zwischen den Zügen, die Minuten, in denen nichts weiter geschah als zu überlegen, welche Optionen man selbst und welche der Andere hat. Denn: Was könnte man in der Zwischenzeit verpasst haben auf Twitter, auf Facebook, kam eine Mail?

Über das und über Entwöhnung habe ich drüben in der F.A.Z. einen Beitrag geschrieben.

In der Überzahl

Ich habe es noch im Ohr, das Knarzen, das Rauschen und das vertraute Piepen des Konferenzsystems, das anzeigt, wenn ein Teilnehmer die Konferenz verlässt. Es ist vielleicht zwei Jahre her, wahrscheinlich nicht ganz, es war Frühling oder Herbst und ich saß in einem Konferenzraum in einer hässlichen Bürostadt vor den Toren Frankfurts am Main bei einem großen internationalen Unternehmen, das wenige Monate zuvor noch mein Arbeitgeber gewesen ist. Diesmal saß ich dort für eine andere Firma, gemeinsam wollten wir ein Projekt starten, von dem ich mir persönlich mehr versprach als die monatliche eMail, die mich Freitag abends erreicht und mir anzeigt, dass es eine neue Diskussion gibt in unserer Diskussionsgruppe in de sozialen Netzwerke dort draußen, einem Netzwerk für Professionals natürlich.

Blick über München

Eine halbe Stunde später geht die Tür auf und die beiden treten ein, mit denen zusammen wir vorhin gegen das Rauschen anschrieen, um uns zu verstehen. Dass die Leitung abbrach, erzählt der Ältere von beiden polternd, leicht nuschelnd und spuckend, läge an der Unzuverlässigkeit der Mobilkommunikation bei Geschwindigkeiten jenseits von zweihundert Kilometern pro Stunde. Der Dünnere, der Fahrer, kichert leise und ich frage mich unwillkürlich, ob er Haargel benutzt. Ich suche den Blick der E., die mir gegenüber sitzt und die ich seit zwei Stunden kenne. Ich weiß es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch in diesem Moment fragen wir uns das Gleiche. Der andere setzt wieder an, die Strecke aus Süddeutschland sei morgens voll und die Verspätung dann nicht mehr aufzuholen gewesen, stürzt sich auf eine polierte Kanne Filterkaffee und auf die Kekse, während das Meeting wieder beginnt. An diesem Abend werden wir alle Member des Boards und wir haben hehre Ziele.

Diagramm

Was von diesen Zielen übrig blieb sind 2013 nur wenige eMails, die in den Abendstunden kommen und die ich schon lang nicht mehr lese. Weil wir als Organisation uns nicht mehr treffen, weil keiner mehr auf eMails reagiert, die E. nicht und nicht die anderen Members des Boards. Wir haben die Vorlage der Überwachungsstaaten verstreichen lassen wie die Piratenpartei, wir haben uns an keiner Diskussion beteiligt, wir haben nicht einmal intern darüber gesprochen. Vielleicht, weil wir beschäftigt waren mit der Entwicklung einer Zertifizierung, die sich jemand selbstgefällig über den Kamin hängen kann. Vielleicht, weil wir uns aufgehalten haben mit Überflüssigkeiten, aus Respekt vor den echten Problemen, aus Angst vor der eigenen Meinung; nein – aus Angst vor der Reaktion unserer Kunden: man will seine Kunden ja nicht vergraulen, so muss man politisch agieren. Wir stürzten uns daher auf ein Akronym, das man sich ins Netzwerkprofil schreiben kann, wenn man genug Antworten für einen Test auswendig lernt. Uns kommt zu Gute, dass in dem Umfeld, in dem wir uns tummeln, Papier wichtiger ist als die Tat. Freitag abends, im Tal der Verzweiflung, glaube ich manchmal, es geht in dieser Branche alleine ums Reden, es geht nicht ums Machen.

Alte Post

Folgerichtig ist das vertraute Piepen des Konferenzsystems zu spielen, wenn eine Mail eintrifft unserer Organisation.

Meran. Wieder. Immer noch.

Vom Chiemsee aus Richtung München und dann das Inntal hinab bis nach Hall. Ampass, dieser Ortsname hat sich eingeprägt als Beginn der rückblickend steilsten Rampe der Tour, die wir wenige Wochen zuvor hinter uns ließen. Als Belohnung winkt der Wilde Mann, ein Gasthaus, das schon wieder zu früh hinter der Rampe wartet – damals hatten wir das Frühstück im Bauch, die ersten argen Höhenmeter in den Beinen und nach Tiroler Küche kein Verlangen. Dieses Mal passierten wir das Gasthaus kurz vor Mittag, waren aber noch satt vom Frühstück am See. Wir werden auf dem Rückweg einkehren, zu einer unmöglichen Uhrzeit, die unsere Auswahl auf eine wirklich kurze Karte beschränkt. Aber wir reden über unsere Pläne, haben ein gutes Gefühl und sind am Ende – wenn nicht überfressen – angenehm satt. Ein Espresso, um auf die Beine zu kommen, um wieder den Fahrersitz zu erreichen.

Auf dem Jaufenpass

Jaufenpass im Nebel

Der Wilde Mann markiert den Beginn der kleinen Bergstraße, die sich gegenüber der Brennerautobahn am Abhang entlangzieht Richtung Brenner und in Matrei auf die alte Staatsstraße trifft. Matrei dann, Brenner hoch, Brenner runter und während der Abfahrt den Blick auf den parallelen Radweg geheftet, der sich irgendwann von der Staatsstraße löst und in einem alten Bahntunnel verschwindet. Die Ahs und Ohs in Richtung des wunderschönen Mädchens unterbrach ich nur durch die Versicherung, dass diese Strecke mit dem Fahrrad noch einmal beeindruckender sei.

Auf der Ellbögenstrecke

Auf der Ellbögenstrecke

Am Fuße dann: Sterzing. Auf dem Hinweg ebenso ignoriert wie den Wilden Mann, auf dem Rückweg allerdings sind wir ins Zentrum gefahren, ich habe auf dem Marktplatz auf den Schwarzen Adler gezeigt und auf die Apotheke, in der ich mein Lippenbalsam erwarb. Am Ende der Fußgängerzone Kaffee und Torte in der Konditorei Prenn, aus der wenige Wochen Don ein Blech Apfelstrudel hinausgetrug und auf dem Radgepäckträger bis nach Meran brachte. Wir importieren ein Blech dieses Strudels in die Heimat, nur teilweise als Miete für das geliehene Fahrzeug. Der Rest – und an einem Blech Strudel isst man recht lang – ist der Nachtisch für die nächsten drei Tage.

Am Fuße des Jaufenpasses

Kaffee über Meran

Den Grafen, das alte Hotel, erreichen wir am frühen Nachmittag. Das Auto hat sich über den Jaufenpass gequält und ich kann es ihm noch nachfühlen, wacker geschlagen und wir tranken einen Tee auf dem Sattel des Passes, während eine alte Münchnerin ihren Mann dazu antrieb, einen Sack Kartoffeln von dieser Berghütte – als gäbe es Kartoffeln allein jenseits der Baumgrenze – ins Auto zu tragen. Über Meran muss man wahrscheinlich nichts sagen, es war wie immer und als uns der Hotelier in seiner eigenen Art zum Auto begleitete und uns auf die Strecke schickte nach Haus – besser sofort und besser schnell – huschte ein Leuchten über seine Augen, er lächelte und er sagte »bis bald«. Das jedoch ist eine andere Geschichte.

Hotel in Meran

Ich in Meran