Wir, die uns nach Kräften mühen

Ich antworte stets, dass ich gern wohne, wo wir wohnen. Einzig der Weg aus der Stadt, der in jeder Himmelsrichtung nicht weniger als eine halbe Stunde in Anspruch nimmt, trübt das Bild dieser Lage. Ausnehmend oft vergesse ich dabei, dass ich zwanzig Minuten brauche in dieses Café in dem ehemaligen Gewächshaus des Schlosses, einhändig und ohne mich groß zu bemühen.

Schloss Nymphenburg

Gut drei Stunden hingegen benötigt man bis hinunter an den See. Etwa die Hälfte der Zeit habe ich am Sonntag gebraucht bis in den Schatten jener Kirche, in dem ich auf einen Freund wartete, der mich abholte und mir einen Satz neuer Laufräder lieh. Er fährt ein italienisches Auto älterer Bauart, das wenig später vor der Konditorei nicht mehr anspringen wird. Und ich erinnere seinen Satz, einen Defekt am Auto oder am Rad stets als Chance zu sehen auf Veränderung, eine Änderung des eigenen Lebens. Durchaus, ich hätte die Speiche an einem anderen Berg verlieren können und nicht an diesem Kirchberg, der mir den Aufenthalt angenehm macht. Sonntags, irgendwo im Süden von München.

Endlhausen

Das Auto bringt uns endlich doch auf seine Terrasse, wir genießen Torte am Fuße der Berge und fahren später auf dem Rad diese Strecke am See, entspannt an den Kolonnen der Autos vorbei, die Richtung München zur Autobahn drängen. 

Ich weiß nicht, ob ich alt genug wäre für ein Leben dort. Wahrscheinlich. Doch ich genieße unsere Wohnung, die Lage und die Museen. Wenn ich die Münchner satt habe vor unserer Wohnung, flüchte ich diese zwanzig Minuten in das Gewächshaus, einhändig, das zerbrochene Laufrad in der anderen Hand – es dem Radladen zu bringen – auf einem geliehenen Satz.

Sonnenuntergang am Tegernsee

Am Sonntag trugen wir Eddy-Merckx- und Campagnolo-Trikots und fuhren teure italienische Rahmen. Das wunderschöne Mädchen, ohne Click-Pedale und in Jeans, ließ uns am ersten Berg buchstäblich stehen.

Wir kommen um uns zu beschweren

Der letzte Eintrag ist vom 7. Juli. Beinahe drei Wochen her, das war eigentlich anders geplant, doch manchmal passieren Dinge und andere stehen zurück. Ich habe seit dem 7. Juli kein Buch mehr gekauft, beispielsweise.

Ich habe keine Fotos aus London und Oxford, keine aus der sauerländer Abtei und ich erinnere Amsterdam nur vage, wie das Meer und die Berge.

Nordsee

G. fragte mich vor etlichen Jahren, wann es mir endlich wieder einmal schlechter geht, dann schriebe ich besser. Er lachte dabei und ich lachte auch.
Trotzdem: So gesehen geht es mir also deutlich zu gut.

Es ist nur manchmal ärgerlich,
dass ich so müde bin.

— Tocotronic 

Wenn wir einmal heiraten, dann schick‘ ich Dir ein Bild aus Wedding

Kurz hinter Halle steht ein altes Gebäude, ein roter Backsteinbau, in der Nähe der Gleise. Während klimatisierte Hochgeschwindigkeitszüge vorbeirasen und Wirtschaftsprüferaugen in Laptops starren, bleibt mein Blick hängen an der Backsteinwand dieses Hauses auf Höhe des ersten Stocks, die nur noch halb existiert. Die andere Hälfte hat der Wind, der hier über die Ebene pfeift, vor Monaten eingerissen. Das Gebäude steht seit Jahren verlassen, wahrscheinlich diente es einst als Fabrik, vielleicht als Werkstatt in Familienbesitz. Ebenso wahrscheinlich zog das Kind der Familie für die Ausbildung nach Berlin.

Ich kann mich nur leidlich erinnern an den Winter 2008. Gegen Jahresende zog das wunderschöne Mädchen nach Berlin und blieb für Monate dort. Aus dieser Zeit kenne ich wunderschöne Ecken, weiß wo das Tacheles steht, die Philharmonie, und seither lehne mich lässig zurück, wenn jemand fragt, ob wir uns treffen wollen an den Hackeschen Höfen und ob ich weiß, wo das ist.

Heute morgen im Nieselregen, an den Ufern des Spreebogens, wusste ich nicht mehr genau, warum ich Berlin damals nicht mochte. Es ist müßig, darüber zu grübeln; Es hilft sowieso nicht, einen Fehler nicht wieder zu machen. Heute morgen im Spreebogen dachte ich auch an den Tod meines Großvaters und die mahnenden Worte der Eltern, zu erinnern was ich an ihm mochte, sicher abgeschirmt vor den Toren der Klink.

Kurz vor der Wildnis

Und ich erinnerte das Gespräch gestern im Bordbistro des Schnellzugs. Irgendwo zwischen Jena und Halle sagte M. «Hier drüben ist Deutschland wundervoll grün.» 

Wenn man hier ruhig ist, kann man Italien schon riechen

Gestern Abend auf der Terrasse, als die Sonne hinter den Bergen verschwand, kam man wieder in das alte Gespräch, auf die Themen, die man in unserem Alter noch regelmäßig zerkaut, und man kam zu dem Schluss, dass alles richtig ist und dass man nicht tauschen möchte mit andern. Vielleicht ging der letzte Halbsatz unter auf dem Weg zum Weinregal, in dem die Flaschen des Roten aus Südtirol lagern.

Der See

Auch wenn man durchaus gut lebt in der Münchner Innenstadt kommen doch jedes Mal auf den Seewegen hier Zweifel, ob nicht ein Grundstück (mit Steg) langsam Zeit würde, eine Wohnung am See. Gestern war ich anfälliger als sonst für solche Gedanken, brauchte ich mit dem Rad doch mindestens eine halbe Stunde an den Stadtrand, eine halbe Stunde Wegstrecke mit Ampeln, Radtouristen und unaufmerksamen Fußgängern und Automobilisten.

Motion

Dass die Europameisterschaft im Fußball an diesem Wochenende beginnt, beantwortet man mit einem hoffnungsvollen Blick auf die Wettervorhersage. Fußballspiele bedeuten gähnende Leere auf Straßen. Während einer Ausfahrt auf der Dachauer Straße zu Zeiten eines Nationalmannschaftsspiels verblassen die Themen von jener Terrasse.

Jedenfalls eine Weile.
Jedenfalls bis zum Kauf einer Wohnung am See.

And any man who knows a thing knows he knows not a damn damn thing at all

Als wir uns irgendwann während des Telefonats ankichern und ich ihm sage, er höre sich gut an, sucht er den Grund im Schlafmangel. »Nein«, sage ich, »ich kenne Dich besser.« Er sagt, er müsse immer an mich denken auf seinen seltenen Reisen im Zug, ich melde mich immer bei ihm, wenn ich an Flughäfen sitze.

Der Blick in die Ferne gerichtet; ich besitze mehr Fotos von Flugzeugen als Fotos von Zügen, und auf ihnen liegt stets diese düstere Romantik und Melancholie.

Departure

Der Zug rast durch die abendliche Landschaft, leidlich erhellt vom Lichtstreifen am Horizont, vorbeirauschende Tannen spiegeln die Funkenschläge der Oberleitung wider gleich einem Stroboskop.

Der Blick in die Ferne gerichtet; manchmal kramt das Unterbewusstsein Erinnerungen hervor mit tanzenden Menschen, schweißnassen Wänden und lauter Musik. Ich bin froh, dass dort draußen nichts ist. Nichts sonst als das Licht und der Wald. Nichts sonst als die Stille, nichts sonst als die Nacht.

Sunset

Dottore Mata

Ich habe noch italienischen Staub an den Schuhen, die ich im vorvergangenen Monat in Mantua trug. Staub von den Wegen zwischen den Kirchen und Palästen, Staub von den Straßen, auf denen wir mit unseren alten italienischen Fahrrädern fuhren. Staub, den ich nicht abtragen möchte am grauen Teppich im Büro vor der Stadt.

Fahrrad, alt, italienisch

Der Weg zu der Kirche führte vorbei an einem riesigen Einkaufszentrum, an damals schon verdorrt aussehenden Gräsern, unter der Mittagssonne, die Ende April schon beinahe unangenehm brannte.

Wenige Tage danach fuhren wir zu einem Radgeschäft – er vorweg in seinem italienischen Cabrio, wir hinterher in unserem gemieteten Kleinwagen – an dem ich selbst mit einer sehr genauen Wegbeschreibung vorübergefahren wäre. Heute schüttle ich den Kopf über mein damaliges Zögern, dieses eine Rad zu kaufen im Hinterhof dieses Geschäfts.

Unser Gastgeber und der Besitzer des Ladens, den er mir auf englisch vorstellte – Radbegeisterte unter sich, und ich mittendrin mit der Ahnung, bestenfalls an der Oberfläche des Wissens zu kratzen, doch immerhin begeistert von alter italienischer Handwerkskunst, deren Namen ich weiß. So halte ich mich gegenwärtig über Wasser: Ich flicke alte Schläuche, um etwas mit den Händen zu machen, mich langsam heranzupirschen an die Normalität, ein Fahrrad komplett zu zerlegen. Ich habe gestern den Keller umgebaut, dass man eine Werkstatt hineinbekommt. Für den Fall, dass das Rad irgendwann da steht, dieses Rad, das ich suche.

Here be dragons

Ich habe durchaus einige Erfahrung im Reisen, bin vorher keineswegs nervös und setze mich selbst nie unter Stress. Weil ich aus der Wohnung aber oft den letztmöglichen Bus Richtung Hauptbahnhof nehme, bereiten mir die Kapriolen der hiesigen Verkehrsgesellschaft regelmäßig Momente des Stresses und hin und wieder einen ungeplanten Aufenthalt im Wartebereich für Vielfahrer der Bahn.

An einem Morgen in Lenggries

Was ich neben der Sache mit dem Bus nie lernen werde, ist die Fähigkeit, passend und der Reisedauer gemäß zu packen. Verschärft wird dies durch mein Bedürfnis, stets nur mit Handgepäck zu reisen, wenn möglich also die Verwendung sperriger und unhandlicher Koffer zu meiden und, das ist die wirkliche Motivation, nie mit mehr als einem Gepäckstück zu reisen. Wer übergewichtige Ferienflieger mit ebenso übergroßen und unförmigen Reisekoffern durch die Gänge der Fernverkehrszüge rumpeln kennt, weiß um die Problematik mehrerer Koffer. Dies und meine erstgenannte Unfähigkeit kombinieren sich zu einer Situation, die mich stets unbefriedigt zurück lässt.

Allein: Ich werde besser. Das Handgepäckstück ließ sich heute morgen schließen ohne Gewalt, ist noch tragbar und dennoch habe ich genügend Kleidung dabei. Will sagen: Bezüglich der Kleidung weiß ich mittlerweile zu packen durch einfache Umrechnung der Reisetage in Kleidung; hier hat man schließlich Erfahrung seit Jahren. Mit Reiseliteratur hingegen hapert es immer bei mir: Heute habe ich zwar kein einziges Buch dabei, aber gleich zwei Stapel wissenschaftlicher Papiere und Studien.

An einem Mittag in Lenggries

Ich bin bis Freitag Abend noch in Berlin.

Ich möchte schlafen, aber Du mußt tanzen

Ich hatte zahlreiche Bücher dabei, als ich aufbrach nach Italien, von denen ich bis heute etwa zwei Bände gelesen habe. Nach einer Woche fühle ich mich wieder gesund. Unbegreiflicherweise ist meine letzte Italienreise schon drei Jahre her.

IMG_0998.jpgIch war in Mantua, auf Empfehlung, mit seinen Höfen und Gassen. Und ohne das irritierende Gefühl der Allgegenwart Deutscher, das mich über die alten Passstraßen der Alpen noch bis zum Mendelpass begleitete. Weil ich die WLAN-Zugangsdaten nicht sofort fand (und dann später, trotzdem ich sie hatte) eine Zeit fernab des Netzes. Alternativen boten zahlreiche Kirchen und Paläste, die es in Mantua wie in jeder anderen alten italienischen Stadt gibt. Auch darum mag ich die staubigen Straßen des Südens.

Ich komme zurück mit zwei Listen, über der einen steht Wünsche, über der anderen Unbedingt zu beachten!. Ich fühle mich gesund, wieder. Ein Gefühl, dass ich eine Weile lang nicht mehr kannte, das hier Vielerlei lächerlich macht. Ich musste nach Italien fahren, dies zu merken.

Kann ich jedem nur empfehlen.

— Theodor Storm: Hyazinthen

Gegenüber auf dem Spielplatz beißt der Hund sich durch den Reifen

Drei Wochen vor Mantua. Ich sitze ich ein gutes Stück im Norden. Lächerlich wenig nördlich um zu behaupten, so lange nicht nördlich gewesen zu sein. Ich wusste bis heute Abend nicht, dass es Ein-Sterne-Hotels gibt und schlafe nun in einem. Um die Durchsagen nicht zu hören am Hauptbahnhof für die Züge gen Norden – für die Züge gen Süden – habe ich die neue Kettcar-LP zum zweiten Mal gekauft.

Ich wasche die Haare mit Handseife, weil ich auch in dieser Hinsicht mit minimalem Gepäck reise.

Du sagst, nach allem was Du weißt
ist noch nie ein Boxer in den Kampf gegangen
der Vorsicht heißt

Vor vielen Jahren traf ich einen Block weiter einen Freund, quartierte mich einige Monate später erneut bei ihm ein und kaufte mir die zahlreichen Bierkästen selbst, die ich abends dann trank, während ich durch die dunklen Wiesen der Vorstadt lief, in der er damals wohnte. Es gibt etliche Fotos aus der Zeit, aus dem Sommer, vom Steinhuder Meer.

Ich wusste bis heute Abend nicht, dass es Ein-Sterne-Hotels gibt. Es fühlt sich gut an, hier zu sein.

Du sagst, nach allem was Du weißt
hast Du noch nie ein Pferd ein Rennen gewinnen sehen
das Trübsal heißt

— t: Kettcar: Kommt ein Mann in die Bar/In Deinen Armen

Mr. Chesterton

Ein Mann, über zwei Meter groß mit schlohweißem Haar. Und ein Mädchen mit schwarz lackierten Nägeln am Tisch gegenüber. Ich habe die Musik gefunden für meine Reise über die Felder vor der großen Bühne des Marschlands, auf der sie täglich das stets gleiche Stück Dämmerung geben. Und doch vermisse ich heute einhundert Dinge; allein das ist viel besser als sonst.

LandmarkEs gibt den Stadtmenschen, es gibt den Landmenschen und es gibt den Menschen der Schiene: Ich liebe Fenster nirgends so sehr wie im Zug und Bäume nirgends mehr als neben dem Gleis. Ich habe Lehrmeister um mich versammelt und mir vorgenommen, bis zum nächsten Bahnhof den Horizont nicht aus den Augen zu lassen.

Das ist vielleicht diese Art von Erklärung, die mir fehlte, als mich letztens wer fragte, warum ich meinen Monitor abgebaut habe und der Schreibtisch aufgeräumt ist. Es ist die Erklärung in den mir noch fehlenden Worten, die ich ihm unbeholfen mit ausladender Geste über den Schreibtisch fegend gab: Die Weite.