Kevin Ray Underwood

Der Mordfall in den USA, der die Kannibalen-Diskussion neu entfacht hat und in der letzten Zeit permanente Medienpräsenz erfährt, ist wahrscheinlich jedem ein Begriff. Spiegel Online titelte am 16. April, vier Tage nach dem Tod des Mädchens:

Ein grauenhaftes Verbrechen entsetzt die Menschen im US-Bundesstaat Oklahoma. Die zehnjährige Jamie wurde das Opfer der krankhaften Phantasie ihres Nachbarn: Er soll das Mädchen mit dem Ziel umgebracht haben, ihren Leichnam zu verspeisen.

Entgegen der Macht der Gewöhnung, die der täglichen Berieselung durch die Medien diesbezüglich innewohnt, besitzt dieser Fall eine neue Facette: Er ist individuell erfahrbar.

Der mutmaßliche Mörder der Zehnjährigen ist – bzw. war – im Internet sehr stark präsent. Der Blog optymyst.blogspot.com hat alle Informationen zum Fall und zur oben genannten Person zusammengetragen und hält auch Backups von mittlerweile nicht mehr erreichbaren Seiten. Der Beitrag Kevin Ray Underwood bietet den Einstiegspunkt in die Online-Welt eines Menschen, der von sich selbst behauptet:

Single, bored, and lonely, but other than that, pretty happy.

Fletchers Visionen

SIE unterwandern die Uni ja seit zweihundert Jahren. Ganz Marburg, wenn man es genau nimmt. Die Menschen laufen wie Autos durch die Gänge, überwacht durch GPS, fernsteuerbar durch Elektrik, die ja überall ist.

Während er dies sagt, zeigt er mit der Hand auf die nicht sonderlich saubere Decke der philosophischen Fakultät und sitzt vor mir auf dem Tisch, direkt neben der alten Schultasche meiner Mutter, die ich jetzt im Studium verwende, und meinem Kaffee, über den wir ins Gespräch kamen. Er fragte mich, ob ich „das“ noch bräuchte, er würde eigentlich zwei Kaffees benötigen, „die brühen ihn immer so schwach hier“.
Entschieden hielt ich die Hand über meinen Becher und schaute kurz aus der Süddeutschen auf. In den folgenden zwanzig Minuten lerne ich eine Menge über die Stasi (und eigentlich alle anderen Geheimdienste) sowie Implantate, von denen ich nie gehört habe, nie hören konnte und die es DENEN ermöglichen, Menschen fernzusteuern. Mit den Drähten alter Radiospulen um Arme und Beine sei er im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, unter einem Dach mit der Mafia.

Er verabschiedet sich, einen schmierigen Belag von seinem Jakett zurücklassend, mit den Worten

Aber wir lassen uns so leicht nicht kriegen, was?
Pass auf dich auf!

In Köln und in meinem Zimmer

Samstag, Köln, Einkaufen.

Ein grausames Triplett. Ich kenne das Gefühl, Läden verlassen zu müssen. Oftmals ist es die Musik, die mich wieder hinaustreibt, manchmal sind es die Menschen, und immer fühle ich mich unwohl.
Meide ich Filialen der üblichen Verdächtigen schon jetzt, prallte am Wochenende die gemäßigte Kleinstadtwelt auf das Konsumuniversum der Großstadt, auf die Verquickung von Diskothek und Kleidungsgeschäft für die Besucher eben jener.
Ein Zugeständnis an die Supermarktphilosophie ist – neben horrender Qualität – auch das Fehlen der Verkäufer und damit der Ansprech- und Rückfragenmöglichkeiten, die allein schon deswegen notwendig sind, weil eine irgendwie geartete Ordnung in den Geschäften nicht erkennbar ist.
Wir gingen dann ohne die Dinge, die wir wollten, dafür mit dem Wissen, dass die Jugend von heute eine sehr seltsame zu sein scheint.
Was für die Jungen der H&M, ist für die Alten der Media Markt, in dem ein bulliger Sicherheitsbeamter die Kunden in Gute und Schlechte sortiert, über Funkgerät Beobachtungshinweise gibt und niemand sich daran stört.

Ein paar Straßen weiter waren die Läden ruhiger, geordneter und kleiner, die Verkäufer netter und vorhanden und die Kleider siebenhundert Euro teurer.So schien die filetierte Rohkost samt Dips im französischen Café ein vergleichsweise preiswertes Essen.

Appleium fürs Volk

Man kann Apple gut finden. Und ein Großteil der Menschen, die das tun, ist stolz auf die Computer wie der Nazi aufs Vaterland. Warum eigentlich?

Wer ein bisschen Zeit mitbringt und sich im Macuser-Forum aufhält, wird ein paar dieser Menschen finden, die sogar einen iFliegenschiss für teures Geld kaufen würden und Benutzern anderer Betriebssysteme Borniertheit unterstellen. Deren Existenz beweist, dass der Unterschied zwischen den Nutzern von Apple-Systemen und „den anderen“ gar nicht so groß ist.
Gerade nach dem Bekanntwerden des Wechsels auf Intel-Prozessoren war das Geschrei atemberaubend. Zum Einen wussten viele, dass dieser Schritt den sicheren Tod der Firma bedeutet, zum Anderen wurde klar, dass der Großteil gar nicht weiß, was ein Apple eigentlich ist. Und wer nicht schrie, bekräftigte seine Zustimmung gegenüber Jobs‘ Strategie, der bekanntlich keine falschen Entscheidungen treffen kann.

Da hilft auch der haarsträubende Artikel von Manfred Heinze, dem Betreiber von mac-essentials.de nichts, der sich – uns – folgendermaßen charakterisiert:

Sie – wir –, das sind die Verrückten, die Kreativen, die Quertreiber, die Anderen. Wir verändern die Welt, wir erfinden, wir erforschen, wir inspirieren, wir machen.

Ich kann es langsam nicht mehr hören, mittlerweile muss man ja nicht einmal mehr zu diesen Idioten ins Forum, nun schwappen sie uns schon in den normalen Medien entgegen. So viele Flüche, wie ich gen Himmel schicken wollte, kenne ich gar nicht.
Und ich vergaß, ich hätte dafür wahrscheinlich keine Zeit.

The Party Is Over

Einen Tag nach dem verkaufsoffenen Wahlsonntag, an dem Marburg den Frühlingsanfang euphorisch feierte, in Trachten gekleidete Blumenmädchen Knollengewächse an drängelnde Teenager und Mütter verschenkten und die Stadt geradezu überlief mit glücklich jungen Familien, trommelt der Hagel aufs Nachbardach, als wolle er uns sagen »das habt ihr nun davon«.

Die oberhässliche Oberhessische Presse frohlockt

Diejenigen, die zur Wahl gegangen waren, zeigten sich aber überwiegend gut vertraut mit dem neuen, nach 2001 zum zweiten Mal angewandten Wahlsystem

und übersieht, dass die Wahlbeteiligung bei historischen 43,9% liegt.

Vor dem Eintritt in die Wahlkabine überreicht man mir zwei mehrfach gefaltete und dennoch (DIN) A4-formatige Zettel mit den Worten „Viel Spaß“. Meine Überzeugung, fabelhaft vorbereitet zu sein (einige Wochen früher kam ein Brief mit Anweisungen, wie diese Zettel auszufüllen seien und was panaschieren, kumulieren und dergleichen bedeutet), weicht Hilflosigkeit bei der Handhabung des Papiers, das sich quadratmetergroß vor mir ausbreiten. Das Phänomen der zu kurzen Kette am Wahlkuli bestätigt sich auch in den Nachbarstädten und ich bin froh, als die Papierteppiche in einer blauen Tonne verschwinden und mich der Wahlhelfer anlächelt, als wäre ich einer von ihnen.
Als ich das Wahlbüro durch das Museum verlasse und ins Freie trete, lächelt mich eine gestelzte Fee an und klappert mit ihren seidigen Flügeln. Applaus?

CDU ist Mittelklasse

Während die APPD sich vor den unregelmäßigen Schauern unter dem Vordach der Sparkasse versteckt und Selbstgekochtes verteilt (eher: verteilen möchte, denn kein Passant traut sich, den Weg durch die Traube von Punks zu bahnen), steht einhundert Meter entfernt der Sonnenschirm mit CDU-Wimpeln, unter dem (vermutlich) der Spitzenkandidat seinem (vermutlich) Wahlkampfleiter letzte Instruktionen erteilt.
Ich muss an die ältere, kettenrauchende Dame denken, die vor dem Kaufhaus der Stadt unter einem gleichen Sonnenschirm Luftballons an nicht Wahlberechtigte verteilt – die von der CDU sehen doch alle gleich aus.

Ich mag keine Lanze für die Pogo-Partei brechen, guten Gewissens kann man diese Gesellen in keine Verantwortungsposition lassen. Aber die Klons der christlichen Demokraten machen mir Angst – herabgestiegen aus den Wahlplakaten, geschminkt und gepudert wie im Fernsehstudio und sich ähnelnde Gesichtszüge rufen die Assoziation des frustrierten Ortsvorstehers oder des erwachsenen Sohnes eines örtlichen Bauunternehmers in gehobener Position hervor, der niemals dieses Kaff verlies.

»Politik muss so einengend sein« möchte man dem Berufssohn zurufen, während man Ersatz für den abgelaufenen französischen Quark nach Hause trägt.
Ich sehe Vater und Sohn im geklinkerten Mittelklassehaus, draußen gibt es selbstgemachten Kuchen von Mama. Und die wirklich wichtigen Themen.

[Update: 00:35 Uhr]
Da ist wohl der Sohn nach dem Tennisunterricht über ein wichtiges Kabel in Papas Keller gestolpert. Marburg ist offline.
Zum Glück ist der Sonntag eine Stunde kürzer.

tracroute marburg.de

Ihr Hund schämt sich (für Sie)

Es ist, wie es ist. Mancher guten Dinge sind drei, der anderen vier und Altes gehört im Keim erstickt, nicht beachtet, Anachronismen der Großväter und Legenden der Vergangenheit.

Während in der Zeit eine Artikelreihe über Spießertum gedruckt wird, erkenne ich mich in manchen Artikeln durchgängig wieder und fühle mich dennoch nicht schlecht. Wenn Menschen popeln, schmatzen und rülpsen, hat das mit persönlicher Freiheit nicht viel zu tun. Das eine Lager räumt bis zur fehlenden Hygiene reichende Freiheiten ein; wenn sich der Betroffene wohlfühlt, wäre Kritik unangebracht. Mir reichen gähnende Radfahrer; ich unterschreibe Beobachtungen anderer Freunde und bin entsetzt. Wer entschuldigt, kann gleich am Trog speisen; wo die Freiheit des Anderen anfängt, endet jene des Einen.
Oder – weil ich nicht an völlige Abstumpfung des Individuums glaube:

Was du nicht willst, das man dir tut,
das füg‘ auch keinem anderen zu.

Ihr Hund schämt sich

(Foto von ix)

Der sympathische Unternehmer

Wie oft kann man in der Minute seine Nase hochziehen? Mitzählen zeigte: Zwanzig Mal. Mich macht mein Gegenüber aggressiv und ich warte auf meine Verabredung zum Mittagessen, die sich gewohnt verspätet.

Vorher im Bus:
Der Button am Eastpak-Rucksack qualifiziert den heutigen Punk. Abgesehen von der Frisur gleicht er Klößchen, wie ich ihn mir beim Hören der TKKG-Kassetten immer vorstellte. Hornbrille und Korkenzieherlocken tragend redet er auf seine Freundin ein, die auf dem Rest ihres Hosenbeins steht. Die Fransen verraten, dass bei modernen Hosen nicht nur der Schritt zehn Zentimeter zu tief hängt.

Viel später – vor der Wohnung von Hans‘ Freundin – werde ich zu Heiko sagen, dass man die Vernünftigen gegen Ende seines Studiums kennenlernt.

Die Zeitung wurde zugestellt

Jetzt wo fremde Schiffe stranden
ist erst Recht nichts überstanden

Der Bücherstapel für die Hausarbeiten wächst und verschlingt Kapital, da die wenigen Bücher über Vilém Flusser der Bibliothek entweder ausgeliehen oder als Präsenzbestand (bestenfalls mit möglicher Kurzausleihe) verfügbar sind.
Der Berg aus Teebeuteln steht diesem in nichts nach. Ich lasse viel zu lang brühen, über Bücher und Zettel gebeugt vergesse ich den Tee bis zur Kälte.

Zeitungsnotiz

All das stört den jungen Mann nicht, der selten im großen Computersaal unseres Fachbereichs sitzt und Karten spielt. Oder Mikado. Ein Spiel, dessen erfolgreicher Abschluss mit tosendem Computerapplaus belohnt wird. Ein guter Spieler.
Er erinnert mich an einen Freund, den ich nicht besuchen werde, an einen Freund, den ich schätze und der seine Lautsprecher abstellte. Der nicht raucht und über die verdreckte Tastatur gebeugt neben aufgeregter Spielerei Zigaretten dreht.
Er wird wenig beachtet, ich sehs, auch von Freunden links und rechts fällt der Blick nur beim erfolgreichen Ende seines Spiels.
Ich sah ihn am Freitag mit unglücklichem Gesicht am Bahnhof.