Richtsberg Night Life – das ist hart wie Titan

Erwähnt man »Marburg« und »Musikszene« in einem Satz, fallen mir wenige Dinge ein: die besten Bands kommen sowieso nie oder selten, die ehemalige Punkband eines Freundes, dass ich Tomte vor mehr als zehn Jahren hier als Vorgruppe der Boxhamsters kennenlernte und jemand, der uns auf der Straße ansprach »Ihr kennt mich nicht, aber ich kenne euch aus dem Internet« und heute einer meiner liebsten Freunde ist.

Was ich bisher nicht wusste: Marburg ist offenbar eine Hochburg des Ghetto-Rap. Spätestens seit den neuen Busfahrplänen, mit denen man kaum mehr ohne Umstieg an jenen Ort kommt, der diese Musik gebiert, suhlt man sich im Aggro Berlin Image. Ein Jugendlicher aus der Hauptstadt hat den Richtsberg sozialisiert und ein Video darüber gemacht (Achtung, explizite Lyrik!):

Lovesongs gegen das Schweinesystem

Es ging doch lediglich darum
mit dem Leben klarzukommen.
Da schien Musik als Ausdrucksform
uns allen sehr willkommen.

(Elvira – So wie wir)

Die Hamburger Schule feiert zehnjähriges Bestehen in meinem Leben. Alles fing an damals im Proberaum, als Patrick zu mir sagte: »Du singst wie der von Tocotronic.« Es war die Zeit der ersten Alben, die mich postwendend begeisterten. Bis heute kann ich „Es ist egal, aber“, „Wir kommen um uns zu beschweren“ und „Digital ist besser“ nicht chronologisch ordnen, weil ich alles gleichzeitig kaufte.
Heute trage ich die persönliche Jubiläumstrainingsjacke von einst, aus der „komischen Musik“ wurde „Hamburger Klugscheißerpop“.
Und immer noch zaubern mir die alten Lado-Sampler ein Lächeln aufs Gesicht, meine letzten Neuerwerbungen stammen von Astra Kid und Janka, die meisten Lieder auf meinen Mixtapes sind deutsch.
Danke, Patrick.
Und herzlichen Glückwunsch, Hamburg.

Und morgen sagen wir,
wir haben in der letzten Nacht
die besten Jahre
unseres Lebens verbracht.

(Astra Kid – Und morgen sagen wir)

Action, Kids!

Heute morgen im Antiquariat habe ich meiner Begleitung versichert, dass ich die Software bis morgen ganz sicher fertig bekomme (eigentlich schon gestern fertig gehabt hätte, wäre nicht ständig etwas dazwischen gekommen), inklusive Dokumentation versteht sich.
So ganz rudimentär läuft sie jetzt auch in zwei von sechs Fällen, dokumentiert ist natürlich noch nichts, von wenigen Zeilen im Quellcode der Art »// Action, Kids!« einmal abgesehen. Allerdings bleiben noch zehn Stunden…

Fallenbeck, Niels (22:29:26): schon gesehen das neue? http://www.wherethehellismatt.com/
Schröder, Christian (23:48:24): das is cool
Fallenbeck, Niels (23:48:32): definitiv
Fallenbeck, Niels (23:48:37): das erste kennst du ja, oder?
Schröder, Christian (23:48:40): ja
Fallenbeck, Niels (23:49:04): hab ich erwähnt, keine lust mehr zu haben?
Schröder, Christian (23:49:10): ja
Fallenbeck, Niels (23:49:17): okay. nicht, dass das untergeht

Das Video ist zwar nicht wirklich neu, aber jetzt auch als QuickTime-Version in hoher Qualität zum Herunterladen. Macht ähnlich gute Laune wie die erste Version.

Abschied

Das wollte ich schon immer mal schreiben, und weil es gerade auf Heavy Rotation läuft:

dieses hier ist für den Abschied
falls ich nicht ewig hier sein kann
keine Angst, ich werd‘ ja bleiben
es ist halt nur für irgendwann

eins für all die guten Jahre
in denen wir Gefährten war’n
und nur ein kleiner Dank für Freundschaft
die mir so riesengroß vorkam…

(Boxhamsters – Abschied)

Dreißig Bibeln machen fromm

Schön waren die Zeiten.
Normalerweise bin ich kein Mensch, der alten Tagen nachtrauert; sollte das dennoch phasenweise vorkommen, hat das bestimmt einen guten Grund, eignet sich aber nicht als Leitmotiv für mein Leben.

Als wir gestern in der Frankfurt Batschkapp vor der Bühne standen, sehnte ich mich allerdings in die alten Zeiten zurück, in denen man die Band noch auf direktem Wege und nicht nur durch diese kümmerlichen Displays der hochgehaltenen Digitalkameras und Multimediahandys sehen konnte. Spätestens seitdem die Hersteller eine Videoaufnahmefunktion integriert haben, nerven die Dinger auf Konzerten wirklich.
Ich, der auch mit Konzertfotos nie viel anfangen konnte, stelle mir die Frage nach dem Sinn der briefmarkengroßen Videoschnipsel mit grauenhaftem Ton. Zum Konservieren des abendlichen Eindrucks sind sie ebenso unbrauchbar wie zum Überzeugen von Freunden, und ein Konzert in der Erinnerung Revue passieren zu lassen, stellt sich mir reizvoller dar, als meine Phantasie mit dem Entschlüsseln des nicht erkennbaren Pixelbreis auszulasten.

Dass eine Fotomöglichkeit dennoch praktisch sein kann, habe allerdings auch ich erkannt. Ein paar lohnenswerte Bilder wären nie zustande gekommen (na nuuna na?), auch eignet sich diese Funktion für das Archivieren von Öffnungszeiten oder sonstigen öffentlichen Informationen, die ich allzu gern vergesse.
Für die mir stets fremd gebliebene Videofunktion gibt es allerdings auch begeistert angenommene Anwendungsszenarien. Warum also sollte sich nicht auch irgendwer Konzerte im Handy ansehen?

Willkommen in der Groupie-Lounge

Ich erwähne noch immer in der Antwort auf die Frage, welches mir das liebste Konzert gewesen sei, jenes von Blobkanal und Kamera hier in Marburg, das erste nach Studienbeginn, und das Konzert der Weakerthans, bei dem ich im Weg von John K. Samson stand und ein paar Worte wechselte, als er auf die Bühne wollte.
Seine Ausstrahlung habe ich heute noch im Gedächtnis, doch ich bin weit davon entfernt, mir Bilder von ihm in die Wohnung zu hängen oder als Desktop-Hintergrund einzusetzen.

Leo im BettIn meiner Bekanntschaft existieren derartige Strömungen mit anderen Künstlern. Die Hintergrundbilder können nicht schnell genug wechseln, um keinen zu vergessen. Diminutive der Vornamen unterstreichen die Lächerlichkeit, als Spaß ist das schon längst nicht mehr deklarierbar.
Ich verachte das Groupietum, dass deutlich vom Fan-tum zu unterscheiden ist. Wer auf Konzerte fährt, um anzuhimmeln (jaja, die Musik, …), verhält sich lächerlich. Wer fünfunddreißig mal das gleiche Video anschaut wegen des Sängers, wer alle mit Vornamen anredet, um Verbundenheit zu signalisieren und wer all dies leugnet, während er verlegen grinst, ist dieser Strömung anhängig.
Der dann die Bravo nicht mehr liest, kein „Teen“ sondern „Twen“ ist und sich im infantilen Verhalten suhlt.
Und mich rasend macht.

Ich weiß mittlerweile sehr gut, warum mein Opa sich früher über mich aufregte und stets sagte „höre auf zu spinnen“. Aber auf mich hört ja keiner.

Heinz Strunk – Fleisch ist mein Gemüse

Als ich Russendisko kaufte, lag auch Heinz Strunks Fleisch ist mein Gemüse auf dem Buchstapel, den ich zur Kasse trug. Auch hier erzählte man sich und mir von der überragenden Qualität des Buchs.

Ja. So etwas lese ich gern, es hat diesmal nur wenig mehr als vierundzwanzig Stunden gedauert, bis das Buch gelesen war. Manch russischer Autor kann sich eine Scheibe abschneiden, vielleicht muss ein Buch aus längeren als dreiseitigen Geschichten bestehen, um lesenswert zu sein, Sprachwitz enthalten und einen sympathischen Loser als Hauptcharakter, mit dem man sich identifizieren kann.
Ein Patentrezept gibt es sicher nicht, doch scheint die angesprochene Kombination in Strunks Buch zu funktionieren.
Wer Kaminer für leichte Bettkost hält, wird mit Heinz Strunk wesentlich glücklicher.

Wladimir Kaminer – Russendisko

Sein erstes Buch und jenes, was ihn in Deutschland bekannt machte, ist Russendisko. Aber warum? Nachdem ich von einigen Seiten hörte, Kaminer sei lesenswert, habe ich genau das getan.
Warum ist Kaminer lesenwert? Die Antwort findet man nicht in diesem Buch, dass eine gebundene Aneinanderreihung belangloser und langweiliger Geschichten ist. Dumpfe, vermeintlich witzige Sätze beschreiben dümmlich wirre Situationen. Auf Seite 166f heißt es zum Beispiel

„Ich habe Knochenkrebs, die deutschen Ärzte wollen mir ein Bein abhacken. Halten sie das auch für notwendig, oder gibt es vielleicht eine Alternative?“
„Es gibt immer eine Alternative“ erwiderte der Radiodoktor. „Essen sie Blei!“
„Was esse ich?“
„Sie sollen Blei essen. Viel Blei“ wiederholte der Doktor und legte müde den Hörer auf. Noch ein Menschenleben gerettet.

Die auf dem Rücken abgedruckte Kritik der Süddeutschen Zeitung

Ruft noch jemand nach dem großen Berlin-Roman?
Bis der kommt, mag man sich mit Kaminer vergnügen und dessen Expeditionen durchs Dickicht der Stadt.

trifft zu: Ich rufe nach dem Berlin-Roman und würde mich wirklich gern mit Kaminer vergnügen. Aber nicht einmal die Süddeutsche hat eingeräumt, dass dies überhaupt möglich ist.

Kaminer ist langweilig. Ich kann verstehen, dass jemand nur Missgunst übrig hat, der den ersten Schritt in die Popliteratur mit diesem Buch versuchte.

an artist with a brilliant disguise

Musiker der Woche ist St. Thomas, dessen Let’s Grow Together rauf und runter läuft. Das Robocop Kraus Konzert heute abend entfällt wegen Krankheit, Tomte veröffentlichen Anfang nächsten Jahres ein neues Album auf dem hauseigenen Label (das in Grand Hotel van Cleef’scher Tradition großartig werden muss) und die Altnazis schauen aus ihrer Mondstadt herab auf die Erde. Ganz nebenbei erledigt sich eine bekannte Verschwörungstheorie: Wären die Amerikaner 1969 tatsächlich auf dem Mond gelandet, hätten sie die Nazistadt sehen müssen.

I was born with a twist in my voice,
I could sing „lolalolaley“