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Ihn kenne ich kaum, da ich normalerweise das Antiquariat zu anderen Zeiten besuche. Eine geschickte Terminplanung macht es mir möglich, gerade jetzt in diesem Laden zu stehen. Ich habe sorgsam einige Bücher zusammengetragen, die sich jetzt auf dem Tresen stapeln, neben der alten Kasse, hinter der er jetzt steht und mich flüchtig begrüßt. Er murmelt im Timbre eines Bibliothekars und wie immer in solchen Situation lächle ich unsicher zurück und deute mit einer Hand auf die vielleicht zehn Bücher vor mir.

Bücherstapel

Er fängt an zu erzählen, erst langsam und zäh wie ein Schiffsdiesel und kommt dann (wie ein solcher) in Fahrt, erzählt zu jedem der Bücher eine Geschichte, mindestens jedoch einen kurzen Satz. Buch für Buch gehen wir durch, er, der Bibliothekar und ich der Student an der ewigen Ausleihe, jedes nimmt er in die Hand, kontrolliert den Einband und dem Schutzumschlag, klopft ihn in die richtige Position bevor er mir das Buch ergeben hinschiebt und nickt.

Geschichten in alter Manier

Ihm entgehen nicht die Widmungen, die ich in den Büchern ebenso fand, und nicht die Unterschriften  der Autoren auf den Titelseiten zweier Bücher (eines habe ich alleine deswegen gekauft). Er lächelt ebenfalls, ein Hauch von Abschied liegt auf seinen Lippen, als ich bezahle, als ich mich bedanke und geh‘. Mir fällt das Herz auf, das einer der Signaturen innewohnt, allerdings erst später am Abend, als ich bei einem Ingwertee durch die Bücher blättere, ein Ritual kurz vor dem Einsortieren der Bände.

Textfluss

Der Metzger, der einmal sein Schlachtermesser weglegt, wird Buddha werden

»Ach, neue Vorsätze, …« denke ich immer dann, wenn mich jemand fragt. »Das hat doch nichts mit neuen Vorsätzen zu tun« und »man sollte sich ändern, wenn es sinnvoll erscheint«, vielleicht weil der Zeitpunkt günstig ist, weil es bereits notwendig ist oder weil man ein Buch gefunden hat, aus Zufall, in den Regalreihen eines Antiquariats. Ich halte nichts von Bleigießen und sonstigen Riten; und natürlich habe ich Vorsätze! Manche seit Jahren.

Straße

Die Entspannung setzte Dienstags ein. Es ist eine Grundmüdigkeit, die mich umgibt, die ich wegzuschlagen versuche – was mir nur leidlich gelingt. Das passiert, wenn die Entspannung durch die Knochen kriecht, ruhige Musik läuft, es draußen regnet und ein Tee auf dem Tisch dampft. Es fehlt alleine ein alter Schreibtisch um glücklich zu sein; ich trauere um eine Gelegenheit, die schon gestern, als ich sie fand, keine Gelegenheit mehr war. Manchmal kommt man einfach zu spät, und genau das ärgert mich. Ein alter Schreibtisch mit einer alten Bankierslampe aus Messing mit stoffummanteltem Kabel passten wunderbar in diese Ecke, gerade in dieser Jahreszeit, die nachmittags um fünf Uhr die Dunkelheit bringt. Die Ecke wartet wie ich, besitze ich doch Bücher, auf die ich brenne, doch jene Bücher liest man gemeinhin am Tisch.

a required reading

Seit ich aufgestanden bin, sitze ich am Fenster, beobachte die Menschen flüchten vor den Wellen, die durch die Pfütze rasende Autos schlagen, nur unterbrochen vom Spaziergang in den Buchladen und die halbe Stunde Fußweg im Stadtpark, beinahe allein. Es ist Samstag und ich habe das Gefühl, nicht schnell genug leben zu können.

Viel zu lang schon nicht mehr

Ich bin wieder unterwegs. 

Ich habe mich seit Tagen darauf gefreut, die nächsten zwei Wochen aus dem Rucksack zu leben an den verschiedenen Orten. Ich habe bunte Hosen eingepackt und grüne Stulpen, dafür nichts, was man gemeinhin als Jacke bezeichnet. Ich habe einen anderen Zug genommen als den geplanten, fahre eine andere Strecke durch einen anderen Teil dieses Landes, auch wenn das Ziel das gleiche ist: eine kleine Stadt, die man über die Jahre vermisst.

Der Start/Die Stadt

Die Tragweite der Entscheidung, auf Kaffee zu verzichten, wird mir nach Monaten erst auf diesen blauen Sesseln bewusst. Es war die Gewissheit, unterwegs zu sein, die mit dem ersten Bahnkaffee im weißen Pappbecher vom Zugbegleiter serviert wurde, diese Gewissheit, in die ich mich wie in eine wohlige Decke einwickeln konnte, die lange zum Reisen dazugehört hat. Doch natürlich ist das Verklärung, und diese Zweieuroachtzig, die der Kaffee seinerzeit gekostet hat, habe ich in einem Reformhaus vor dem Hauptbahnhof in Sanddorn Bio-Fruchtschnitten investiert. Für die Fahrt und für das Reisegefühl.

Der Riegel/Das Essen

Während ich nach Norden schaukle und rase, erinnere ich mich als Kind die papiernen Adventskalendertürchen ganz vorsichtig geöffnet zu haben – nicht zu weit! – da meine Großmutter den Kalender, bevor sie ihn in die geheimnisvolle Kiste mit dem Weihnachtsschmuck und den Christbaumkugeln, die mir als Kind noch fragiler vorkamen als heute, für ein gutes weiteres Jahr auf dem Dachboden verstaute, gebügelt hat in der Hoffnung, die Türen blieben geschlossen und man könne ihn irgendwann später noch einmal verwenden. Sie war ebenso darauf bedacht, die ihr zugedachten Geschenke sorgfältig zu entpacken und das Papier im nächsten Jahr noch einmal zu gebrauchen.

Das Buch

Diese Großmutter ist nach all den Erfahrungen aus den letzten Jahren jene, die das Papier zerfetzt, jene, die uns lehren kann, was Leben bedeutet.

Lüneburg, 30. XI. 1975

Gestern hatte ich Besuch von einem Freund aus Istanbul. Es ist so, dass ich im Vorfeld keine Pläne erdenke, was ich mit Besuch unternehme. Vielmehr frage ich die Interessen des Besuchs ab und nehme mir vor, spontan zu entscheiden, was unternommen wird. Was ich durchaus nicht bedenke (und bis zum nächsten Gast stets wieder vergesse) ist, dass es an Alternativen nicht mangelt, doch wohl an spontanen Ideen; gemeinhin bin ich also überfordert. Gestern nun saßen wir den ganzen Tag bei Tee vor der Bücherwand und gingen sie durch, zwischendurch andere Themengebiete streifend.

Ich hatte vor vielen Jahren einen Kalender. Zu diesem gab es (und gibt es noch immer) lederne Ringbücher, verschiedene Einlageblätter und zahlreiches anderes Zubehör. Ich kannte das System von früher: meine Mutter besaß und benutzte es sehr lange, hatte es im Sommer zuvor jedoch aussortiert und so hatte ich eine adäquate Menge an Dingen, die ich lediglich um ein aktuelles Kalendarium ergänzen musste. Ich glaube, ich habe den Kalender zwei Wochen benutzt.

Lüneburg, 1975

Noch vor dieser Zeit habe ich angefangen, meine Gedanken in Notizbüchern zu sammeln. Einige Texte (vornehmlich früher) entstanden in ihnen und mit ihnen verbunden sind Szenen und Erinnerungen an verschiedenen Orten. Ich erinnere mich gerade jetzt an einen regnerischen Tag in einem kleinen Ort, dessen Name längt verblasst ist. Dort saß Ich am Markttag in einem Café, mit mir zwei Einheimische, die mich argwöhnisch musterten beim Schreiben dieses Texts. Ich sehe die Einrichtung noch vor mir, sogar die Gedanken beim Durchblättern der Speisekarte, und beides versprühte den Charme und die Gewissheit, als rechne man dort nicht mit Gästen.

Der Freund erzählt, er könne keine zwei Dinge gleichzeitig und wie er damit umgeht täglich in seinem Büro. Er sagt Dinge, die ich mehrmals gelesen habe und die mich dennoch treffen wie Schüler, deren Streich aufgeflogen ist. Ich sitze dort mit roten Ohren und nehme mir vor, einiges auch einmal zu probieren. Ich entschuldige mich in diesem Moment und in Gedanken vorab bei all denen, auf deren Nachrichten ich vielleicht nur noch zweimal am Tag antworten werde. Einen Tag später, heute, krame ich das alte Telefon wieder hervor, das nichts kann als telefonieren.

Wenn ich einmal reich und tot bin

Dem Freund habe ich (genau genommen) eine meiner besten Investitionen der letzten Dekade zu verdanken: meinen Füllfederhalter. Mit allem anderen hat jener Freund kaum etwas zu tun.

Bury My Heart at Wounded Knee

Ich bin hier viel zu selten und wie es scheint, bin ich der einzige, der nur zwei Stunden gearbeitet hat und sich jetzt Angenehmerem (diesem Text!) widmet; abgesehen von dem etwas älteren Mann, der in seinem Tweed-Jackett und einer zeitlosen Krawatte vor einem Computer sitzt und sich abwechselnd startende Raketen anschaut und Tetris spielt. Ich mag die Atmosphäre der Bayerischen Staatsbibliothek, die nur ein paar hundert Meter entfernt liegt von unserer Wohnung zwischen einer der großen Prachtstraßen und dem Englischen Garten.

See, nachts

Als ich vor einem Jahr in Berlin war, ging ich durch den Prenzlauer Berg die Kastanienallee hinauf, während die Kälte durch meine Winterjacke zog. Hier, im ersten Schnee des Jahres, ist das eine andere Kälte, ein anderer Wind, doch natürlich sind diese Prachtstraßen, auf denen die Erfolgreichen ihre Sportwagen zur Schau stellen, ein unangenehmer Ort: Der Wind zieht, man friert und es ist laut. Die dicken Wände und die vielen Türen, die man passieren muss auf seinem Weg zum Lesesaal widerstehen den Sportwagen, die sich draußen an der Ampel Beschleunigungsrennen liefern, widerstehen ebenso der Kälte, deren zugige Arme nur bis ins Foyer der Bibliothek reichen.

Und doch dringen Schreie von Raben durch die Scheiben, eine halbe Stunde nun schon. Vorhin haben sich ihre Körper noch abgehoben vom kaltdunklen Himmel der Nacht, jetzt schreit draußen eine schwarze eisige Masse. Die Raben rotten sich regelmäßig zusammen, wann immer ich hier bin, immer dann, wenn es dämmert.

See, nachts

Ich habe mich vorhin erinnert, wie es sein muss, unten am See. In der Bibliothek sitzend, die ich als Rechtfertigung hernehme, wann immer jemand fragt, wie viele Bücher ich eigentlich kaufe. Seit Jahren kenne ich die Aussicht, wenn die Warnlampen am Ufer die Schiffe vor Unwetter warnen. Das ist der Blick aus den Fenstern des Raums, in dem ich sitze, wenn ich nachts vom Alter träume. Doch ich will mich durchaus nicht beschweren; ich hab‘ einen Freund, der lebt in Berlin.

Man kann nicht rausgehen, wenn der eig’ne Film im Augenkino läuft

Morgen gehst du für lange Zeit fort
für ein Jahr und Du gibst mir Dein Wort
dass Du mich nicht für immer verlässt
leg Dich lieber nicht fest

Es ist seit dreißig Minuten dunkel, draußen liegt seit dreißig Stunden nasser Schnee. Und der Wind… Das Fahrrad stand über Nacht in der Garage, heute nehme ich es endlich wieder zu mir und verbringe mit ihm in dreißig Minuten eine Stunde im Wald. Und der Wind…

Bücher auf der Galerie

Eine Kollegin ist heute zum letzten Mal hier für circa ein Jahr. Wir haben versprochen, uns zwischendurch zu besuchen. Sie hinterlässt eine Lücke im Büro ein paar Türen weiter und stopft uns zum Trost noch den Magen.

Es regnet seit Tagen, morgen ist schon Dezember.
Manche sagen endlich, ich sage na gut. 

»Kennst Du das Lied von jenem Weisen, der am Wasser saß, nach Jahr und Tag die Namen seiner Feinde fast vergaß und sie am Ende tot im Strom vorüber treiben sah? Nein, wir beide sind nicht weise, unsere Feinde (sprich jetzt leise!) leben und sie sind ganz nah.«

auf der Galerie Bücher

Denn ich weiß, dass der Tag kommen muss
wo ein flüchtiger Brief oder Gruß
mir verrät, wie fremd du mir schon bist
und du mich bald vergisst

Ich möchte aufwachen vom Geräusch unserer Tür wenn sie ins Schloss fällt morgen früh, wenn Du kommst. Ich verbringe heute, wie ich die Tage verbringe, an denen Du tanzt: Ich sitze für mich, arbeite mit meinen Händen etwas zu schaffen – zum Ausgleich – das man sieht.

Es ist keine schlechte Idee, Werkzeuge zu sammeln, die einen in den eigenen Fähigkeiten unterstützen. Es ist keine schlechte Idee, vorzusorgen. Eliteuniversitätsabsolventen nennen das Netzwerken, ich nenne das Freundschaft.

Man wundert sich, nicht radikaler zu sein. G., ich weiß, Du nennst das alterssenil.

t: Peryton, Hannes Wader 

Zwischen zwei Revolutionen

Wenn ich mich zurück erinnere, sehe ich zwei Küchen, in denen ich jahrelang saß: Da ist zum einen die Küche im Haus meiner Eltern, seinerzeit modern eingerichtet mit Schränken in einem Grünton, der aus der Zeit stammte vor meiner Geburt. Es gab ein mehrbändiges Kompendium mit Rezepten, dessen Buchrückenbeschriftung ich noch immer aufsagen kann. (Sprich mich darauf an, wenn wir uns das nächste Mal sehen.) Zum anderen sehe ich die Küche meiner Großeltern, in der ich ein regelmäßiger Gast gewesen bin zu Zeiten der Mittel- und Oberstufe im Gymnasium unserer Stadt. Beide hatten miteinander gemein, dass sie zum Wohnraum hin geöffnet waren, lange bevor Einrichtungszeitschriften diesen Trend in die breite Masse trugen, in Städte wie Frankfurt oder Berlin, in denen man umgehend das Alte herausriss und ersetzte durch in Küchenstudios entworfene Orte mit Klarlackschranktürdesign. Zu dieser Zeit nahm ich die Speisen in höchster Eile zu mir, nicht um diesen Orten zu entfliehen – das jedenfalls war nie der Grund. Ich kann mich jedoch an an keinen Moment erinnern, in dem ich bewusst in der Küche saß, jemanden zu treffen, weil andere dort gewesen sind.

Zwischen zwei Revolutionen

Zwei andere Küchen wurden in den Jahren danach viel wichtiger als jene, in denen ich als Jugendlicher aß. Erst viele Jahre später in Marburg wurde mir jene im Grimm-Haus lieb, genau genommen ein kleiner Raum, in dem wir speisten und tranken, weil die Küche sehr klein gewesen ist. Trotzdem habe ich mehrere Abende im Kopf, an denen wir sogar vor der Küchentür saßen im Flur, weil man sich dort naturgemäß traf. Andere standen vor dem kleinen Herd und kochten mit Resten, die einem eine Bäuerin für wenig Geld auf dem Markt überließ. Und ich erinnere das alte Haus am Ufer des Chiemsees, das in wenigen Räumen einen Ofen besaß. Man weilte im Winter stattdessen am Herd, der eine angenehme Wärme verstrahlte.

Daran also musste ich denken, als ich diese dreiviertelstündige Dokumentation eben sah, über einen Menschen, den ich sehr beeindruckend finde. Das Internet jedoch würde ich nicht aufgeben wollen, die Empfehlung kam schließlich hierüber von Lu. 

So etwas tut man nicht!

Manchmal Abends, nach Tagen wie diesen, liege ich im Bett und denke an G. Ich denke daran, wie und warum ich ihn schätze, durch was für einen Zufall wir uns trafen (oder besser: er mich). Ich denke an alles was kam in den Jahren danach, schließlich warum ich hier sitze, wie ich bin und mit wem. Dann merke ich, dass ich die Stimme, die sagt »das kannst Du nicht machen!« von Monat zu Monate leiser vernehm‘.

Aufklärung

Ich weiß genau, wovon ich träume, wenn ich mich sehe in wenigen Jahren. Doch gibt es einen Teil meines Lebens, der ist mir noch nicht völlig klar; den sehe ich nicht. In Gedanken versunken, an Abenden wie jenen eben erwähnten, blitzt er manchmal hervor. Dieser Teil meines Lebens ist noch unterwegs. (Im anderen als dem üblichen Sinn.)

So lang‘ ich noch hier bin, bin ich nicht ausgestorben (oder im Zoo)

Als ich am Sonntag erst den Blogeintrag schrieb und später ein Foto gepostet habe, auf dem ich nach einer Radfahrt durch den Regen zu sehen bin, habe ich Kommentare, sogar eMails bekommen, von Menschen die sagten, ich sähe nicht aus oder mindestens anders als sonst. Ich habe im August des letztens Jahres bei der Fraunhofer angefangen, etwa acht Wochen später ist M. morgens auf Abstand gegangen mit den Worten »Mensch, siehst Du scheiße aus«.

Als ich vor wenigen Jahren mit B. und J. durch die Mensa ging, haben Erstsemesterstudenten ehrfurchtsvoll unsere Wege gemieden. Ich war das nicht anders gewohnt, doch J. sagte mir, ich sähe aus als würde ich Menschen fressen. Und Madame sagt so oft, ich soll doch bitte freundlich schauen, wenn ich ausgeglichen auf einem Sofa sitze und mich entspanne. Ich halte nichts von der Theorie die behauptet, wenn man die Gesichtsmuskulatur entspannt, würde man lächeln.

Berlin, Aufzug, Gute Laune

Den einen Freund, deutlicher fortgeschritten im Alter als ich, verstehe ich besser, je älter ich werde. Es gab eine Zeit, da ging es mir schlechter als jetzt oder sagen wir lieber: Ich war schlechter gelaunt. Ich dachte »Irgendwas muss sich doch ändern!« und irgendwas ändert sich jetzt.

Wenn ich am Sonntag nicht glücklich aussah, lag das möglicherweise am Regen. Doch eher an diesem einen Problem, das heute bereits nicht mehr existiert. Es ist, wie der Satz eines Freundes beschreibt:

Wenn wir jammern, dann darfst Du niemals vergessen,
ist das Jammern auf hohem Niveau.

t: Moritz Krämer – Aussterben

Vom Drama, Zeit zu besitzen

Manchmal sind alle Tage grau. Und es gibt ja durchaus genügend Dinge, über die man sich aufregen kann. Etwa, dass man hier nur im ersten Stock wohnt und der Museumsbau gegenüber seit 2009 nicht nur den Alpenblick versperrt – die hat man sowieso nur von den oberen Stockwerken dieses Hauses gesehen – sondern auch seinen Schatten in die Wohnung wirft, da die Wintersonne in diesen Tagen zu niedrig steht. Oder dass man sich von Wochenende zu Wochenende hangelt, weil die Arbeitslast atemberaubend ist und die Deadlines nahen.

Irgendwo vor Augsburg

Ich finde bewundernswert, dass Madame nachts bis drei Uhr tanzen kann: Mir fallen auf (sogar guten) Partys spätestens um zwei Uhr die Augen zu. Die sich abends aufraffen können zum Sport beglückwünsche ich immer zu ihrer Überwindung, wohl wissend, dass mir die Tage selbstgewählt so kurz erscheinen und Zeit bleibt für beinahe nichts. Natürlich könnte ich U-Bahn fahren statt radeln und damit vielleicht eine Stunde gewinnen. Aber dann verpasse ich, was ich im anderen Fall erlebe.

Ich werde manchmal gefragt, ob ich regelmäßig Sport treibe. Oft verneine ich, weil ich mich wirklich daran nicht erinnre. Heute erst sagte ich zu ihr, dass ich sie nicht um ihre Hobbys beneide, wohl aber dass sie für etwas brennt. Sie widersprach, zählte zwei, drei Dinge auf, die mir so normal scheinen, dass ich sie vergesse.

Irgendwo hinter Augsburg

Doch eigentlich grummle ich nur aus Neid, weil ich weiß, dass es anderen besser geht. Zeitlich gesehen, finanziell sowieso. Die senden mir Fotos aus Italien, Bilder von einem See. Und dann, Sonntags morgens manchmal, habe ich auf einmal ganz schlechte Laune.

Allerdings: Ich glaube, die Argumentation geht auch andersherum gut. Wie das halt so ist mit dem Gras auf der Weide nebenan, das immer grüner leuchtet. Denn die braunen Flecken sind nicht Teil der Phantasie.

Wider des bedarfsgerechten Handelns

Wir leiteten in der Schule zusammen die AG Videoschnitt und haben Gleichaltrigen erklärt, wie man Filme macht. Er ist heute einer der Programmverantwortlichen eines großen Fernsehsenders, hat zwischendurch Journalismus studiert und das Fernsehen nie aus den Augen verloren, hat ein Faible im besten Sinne. Als wir uns vor zwanzig Jahren kennenlernten, erzählte er schon vom Fernsehen, ich plante immer schon in engeren Grenzen, fühle mich fremd, fragt man mich heute nach einem Termin im November.

Isarauen

Gestern nahm mich ein Freund zur Seite und erzählte, dass er Tage zuvor eine einsame Stunde verbrachte bei Stift und Papier. Mir fiel das schwarze Notizbuch ein, das ich nur selten noch bei mir trage, mit dem ich aber vor Jahren stundenlang am See saß, im einzigen Café im Schafwaschener Winkel. Viele veröffentlichte Texte stehen heute in Rohform auf den teilweise unleserlich beschriebenen Seiten, oft mit Bleistift geschrieben, um arbeiten zu können, umzusortieren und zu radieren. Hinten im Buch gibt es eine Falttasche, in der sich über die Jahre Postkarten gesammelt haben, Briefmarken und eine Liste mit Telefonnummern, weil ich schon immer in Wellen funktionierte und auch damals oszillierte zwischen völliger Ablehnung und völliger Hingabe zur Smartphone-Technologie. Ich habe mir gestern geschworen, das schwarze Buch wieder bei mir zu tragen und den Laptop dafür weniger oft.

Abenddämmerung

Das fiel mir eben ein, auf Höhe der Schule und des Cafés, in dem ich bisher nie saß. Es besitzt einen guten Blick auf den Hof und wenn die Eltern am späten Nachmittag ihre Kinder abholen, kann man beobachten, wie die Söhne und Töchter aus meist gutem Haus begeistert erzählen, in die Fahrradanhänger klettern oder nachdenklich schweigen, wenn der Vater seine Frage umständlich formuliert. Vielleicht ist dies ein Faible von mir, Menschen beobachten und darüber zu schreiben. Und vielleicht ist ein weiteres, wie ich beinahe zwanghaft Bücher nach ihrem Verlag durchblättre, um keine Lizenzausgaben des Bertelsmann Leserings im Schrank stehen zu haben.