Einer mit Zielen hat bloß noch nicht alles im Leben erreicht

Wissen sie, man erfährt über sich selbst ja ständig Neues. Natürlich war die Häufigkeit der Neuerkenntnisse in frühen Lebensjahren höher, aber auch mit vierunddreißig gelingt es der eigenen Mutter, in einigermaßen geeigneter Lautstärke ein Detail aus der eigenen Kindheit auszubreiten, so dass es auch für die vierköpfige Familie, die auf jenem Ausflugsdampfer neben uns saß, eine wahre Freude ist. Und zwar war das so.

Dampfschiff Ludwig Fessler

Was ich nicht wusste war, dass ich als Kind offenbar keinen Schnuller benutzte. Damit war ich in den Augen meiner Eltern wohl ein Hauptgewinn, wenn ich an Bekannte und Freunde und deren Sorgen denke, ihren Kindern den Schnuller – wie man so sagt – wieder abzugewöhnen. Diese Sorglosigkeit erkauften sich meine Eltern wiederum damit, dass ich sehr viel länger auf mein weißes Tuch bestand, als andere Kinder normalerweise ihre Schnuller verwenden. Dass ich mich daran noch erinnern kann, zeugt von einer gewissen Prägung und der Tatsache, dass dieses Tuch in meinem Leben eine nicht ganz kurze Rolle gespielt haben muss. Was ich nicht wusste und was meine Mutter in einem Anflug von Fremdwahrnehmungsverlust allen Mitreisenden erklärte: Dieses Tuch war eine halbe Windel.

Chiemsee

»Mutter …« versuchte ich noch ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen (und aus den Augenwinkeln sah ich die Familie nebenan lachen, auch wenn sie höflich ihre Gesichter auf die andere Seite drehten und demonstrativ auf die Berge am Seerand blickten). Sie reagierte prompt: »Und weißt du noch, warum du das Tuch nicht mehr haben wolltest?«. So hob sie an zur Geschichte, in der unser alter Hund und sein Appetit eine nicht unwesentliche Rolle spielte. »Es ist ja nicht so, dass du das Tuch nie wiedergesehen hast« sagt sie noch.

Herrenchiemsee

Herr Niels Fallenbeck, vierunddreißig Jahre alt und wohnhaft in München, hat in frühen Kindheitstagen an einer halben Windel gelutscht. Das war’s mit Karriere. (Danke, Mutter.)

Wir haben einen guten Ruf in schlechten Kreisen

Als sie mich gestern Abend anlachte und vorschlug, wir könnten doch um sechs Uhr aufstehen und gemeinsam Radfahren vor dem erwarteten Regen, drehte ich mich auf die andere Seite und schlief aus Protest ein. Als ich um acht Uhr aufwachte und zu den Rädern torkelte, benommen von einem wirklich seltsamen Traum, der um diese Uhrzeit im Blog nicht beschrieben werden darf, fiel mir diese lächerliche Kleinigkeit auf: Dieses Fahrrad trug noch keine Kette.

Wartehaus vor Nichts

Es war unklar, wann ich zurückkommen würde. Die Erfahrung hat gelehrt, mich nicht nach den ersten Ausfahrten auf neuen Rädern zu verabreden. Als ich letztes Jahr mit dem anderen Colnago aus Italien zurückkehrte, lernte ich in den darauffolgenden Wochen südländische Gelassenheit: Ich bin kilometerweit in Radschuhen gelaufen, Strecken, die sämtliche Verabredungen an diesen Tagen ruiniert haben; wegen des Pedals, das sich am Nordfriedhof aus der Kurbel drehte und das Gewinde mit ihm, auch wegen der Speiche, die in einem kleinen Dorf im Süden brach fernab jeder Bahn. Es ist wie mit einem alten italienischen Auto, sagt D., man muss solche Situationen als Gelegenheit sehen, in der sich das Leben ändern kann. Man darf nur eben nicht ankommen müssen.

Colnago C50

Ich habe in den letzten Tagen oft über den Rahmen gestrichen, ich habe ihn geputzt und gepflegt, ich habe neue Schläuche und alte Mäntel auf die Felgen gezogen, ich habe heute morgen eine fabrikneue Kette montiert. Und schließlich bin ich aufgebrochen zur einer kleinen und langsamen Runde, um ein Gefühl zu bekommen für den Rahmen, für die Geräusche, die dieses Rad macht. Die erste Fahrt ist immer etwas Besonderes, man fährt sie ohne Musik und vergleichsweise langsam, damit man das Surren des Rahmens gut hört und Geräusche, die einem zeigen, wenn etwas nicht stimmt. Mit jedem Kilometer wird die Liste der Dinge länger, um die man sich in den darauffolgenden Tagen dann kümmert. An diesem Rad gibt es verschiedene Teile, die ich im Winter ersetze: Der Lenker und der Vorbau sind schrecklich (doch die neuen Teile liegen schon hier), die Schaltbremshebel aus Aluminium sind nett, aber andere aus Carbon passen nun einmal besser. Der Umwerfer und das Schaltwerk, und schließlich diese Dreifachkurbel. Ich bitte sie: Dreifachkurbeln sind für alte Männer, die den Jaufenpass hinaufkeuchen wollen. 

FSA K-Wing

Ich habe erwartet, dass ich heute wieder schiebe. Natürlich gab es ein, zwei Details, die nicht optimal liefen, wir lernen uns schließlich gerade erst kennen. Aber ich kam an, wir kamen durch. Allein eines macht mir noch Sorgen: Die Farbgebung des Rahmens, diese orangenen Streifen. Ich besitze keine Schuhe, ich besitze keine passenden Handschuhe, die mit diesem Detail harmonieren.

– t: Thees Uhlmann – Kaffee & Wein

The Funerals

Heute vor einer Woche saß ich in einem Bus, der mit uns über die Passstraßen flog, die ich wenige Tage zuvor mit dem Rad in entgegengesetzter Richtung überquerte. Hinter mir auf der Bank saß ein Mädchen, das ihren neuen Freund in einem kleinen italienischen Dorf besuchte und nun zurück nach München fuhr, und hinter ihr standen vier Fahrräder. Man sucht sich seine Beschäftigung für die dunklen Tage, die vielleicht bereits angebrochen sind. 

Briefumschlag

Hier kommen Pakete an, die auf den Winter einstimmen: Die CD aus Italien mit den venezianischen Liedern, die natürlich ebenso gut in den Sommer passt, verstreut ihre angenehme Atmosphäre an Regentagen wie diesen. Neben mir knackt der Tee auf dem Stövchen, während von der anderen Raumseite ein Horn herüberweht. So kann ich stundenlang sitzen und schreiben, eine bleierne Müdigkeit legt sich langsam über mich, zwei Räume weiter wartet das dicke gebundene Buch, mich mitzunehmen an die Elbmündung in vergangene Zeiten: Siegfried Lenz‘ Deutschstunde.

Venezianische CD

So sitze ich dem leeren Ohrensessel vis-à-vis gegenüber auf den alten Cocktailstühlen und warte, bis sich der vertraute Schlüssel im Zylinder dreht. Denn an Regentagen wie diesen ist man nicht gerne allein, an Regentagen wie diesen tut der Atem eines anderen gut. Man könnte meinen, der Herbst kommt und mit ihm der Winter.

Und plötzlich, schlagartig, seufzt der italienische Rahmen laut auf, weil der Schlauch im Hinterrad birst. So bleibt man wach dieser Tage.

Hinter all diesen Fenstern …

#transalp13

Es muss einem wie ein Sieg vorkommen. Und obwohl ich noch diesseits des Berges stehe, fühlt sich allein hier zu stehen bereits wie ein Sieg an; das letzte Mal hatten wir zwar die Idee, doch kurz vor der Abfahrt mussten wir die Sache verschieben. Es geht übermorgen los – das Wetter scheint mitzuspielen – und in vier Tagen sitzen wir zwischen Weinbergen, auf der Suche nach WLAN, unsere Gedanken und Fotos zu bloggen. Wir haben die Qual noch vor uns; und wenn ich in dieser Zeit nachts nicht schlafe, sehe ich den weißen Lenker vor meinen Augen sich rhythmisch auf und ab bewegen, begleitet von meinem starkem Atem als Sound.

Kurbel

Während mich die Regelmäßigkeit dieses Atems wieder schläfrig macht, denke ich darüber nach, wo man seine Spuren hinterlässt. Ich habe einen Freund, der dieser Welt seinen Stempel aufdrücken will, der auf der Suche ist nach der nächsten großen Idee und der vielleicht irgendwann enttäuscht sterben oder Erfolg haben und mich später zu einem Tee einladen und sagen wird »doch«.

Antrieb

Wenn ich mich täglich einlogge in meinen Computer, sehe ich noch Fragmente von damals: Drüben, im alten Chat, in dem längst keiner mehr spricht, sind manche der alten Handles noch online und von manchen kennt man den Namen des Menschen dahinter noch nicht. Doch habe ich einige kennengelernt: Ich bin nicht oft in Wien, aber falls doch, treffe ich W., der mir einst den Bräunerhof zeigte, den Thomas Bernhard Zeit seines Lebens besuchte. Oder T., der früher in Osnabrück wohnte und kurz nachdem ich die kleine Stadt verließ, seine neue Stelle im Rechenzentrum begann. Wir haben uns um nur zwei Monate verpasst und darüber gelacht, als ich letztens in seinem Büro stand. M., den ich länger kenne als er seinen Ex-Freund und J., mit dem ich einmal zusammengelebt habe.

Bremse

Irgendwer sagte »damals war das Internet kleiner« und dort zu sein war etwas Besonderes. Das ist mir verloren gegangen, es ist normal geworden, es gibt nicht mehr die Eingeschworenheit einer Minderheit, zu der ich damals gehörte. Es ist gut, dass die Zeiten sich ändern, doch Freunde habe ich in diesem Medium danach selten gefunden.

Kurbel

Damals und doch in einer ganz anderen Zeit las ich von D., zuerst ein Buch, dann die Texte, die er ins Internet schrieb. Übermorgen radeln wir der Gebirgskette entgegen, in vier Tagen sitzen wir in den Weinbergen, im Herbst in Meran, und werden dorthin – auf dem ersten Gipfel – in Lachen ausbrechen, hysterisch verzweifelt, weil wir wissen, zwischen uns und Meran liegt ein weiterer Pass. Und er wird auf seinen Gepäckträger zeigen und lachen.

Wäre ich theatralisch: Es wird nur Blut geben, den Schweiß und die Berge.
Ich werde darüber schreiben. Hier und drüben bei Twitter.

Soldat_in oder Veteran

Es gibt einhundert Gründe, von der Stadt auf das Land zu ziehen und einhundert Gründe sprechen dagegen. Es komme, sagt sie, auf die Priorisierung an. Wir saßen bei Croissants und Kaffee, als sich diese Diskussion wieder entspann: Weil der Münchner Autofahrer an sich gerne hupt und eine Geduldspanne von wenigen Bruchteilen einer Sekunde besitzt, schaltet die Ampel erst einmal auf grün.

Gestern Abend fuhr ich im Englischen Garten in einen Kegelclub, der mit blauen T-Shirts uniformiert war: München Tour 2013. Die nächsten Kilometer ertappte ich mich dabei, wie absurd mir das vorkommt, an einem Ort zu leben, den andere einmal im Jahr besuchen, wohlgeplant mit ihrem sozialen Umfeld – als Event, als Highlight – und dafür T-Shirts bedrucken lassen.

Und sie sagt: »Siehst du? Und hier willst du weg.«

Hochufer

Die Immobilie liegt in bester Lage, der relevante Teil dieser Stadt ist fußläufig erreichbar. Hinter dem bunten Museumsbau, dem gegenüber wir leben, findet Samstags ein Bauernmarkt statt, auf dem eine alte Dame selbstgebackene Kuchen verkauft und Filterkaffee. Mit einem Geschwisterpaar vom Bodensee, die Äpfel und Säfte feilbieten, verstehe ich mich blendend; wir lachen zusammen und freuen uns auf das Treffen in der Woche darauf. Einige Parallelstraßen weiter im Norden gibt es ein kleines vegetarisches Café mit phantastischen Torten, etwas näher ist mein Antiquariat, in dem wir oft in Gespräche verfallen, wenn ich mit einem Stapel Bücher an den Kassentisch trete. Außerdem wir haben die beste Eisdiele nördlich der Alpen im Haus.

Doch gibt es natürlich auch Gründe, die mich träumen lassen von einem Leben am See. Nachts prügelt uns vielleicht ein Ferrarifahrer aus dem Bett, weil er jenem im Aston Martin beweist, dass er das Ampelrennen gewinnt. Das Dorf, an das ich denke, besitzt nur wenige Straßen und ist für Proleten uninteressant, weil die Erfolgreichen nicht aufgereiht sitzen an einer Spitzkehre wie unten am Odeonsplatz, in der sie ihr Auto mit brüllendem Motor wenden, um die Leopoldstraße wieder hinauf zu rasen bis zur Münchner Freiheit.

Prypjat

»Nein«, sage ich, »ich möchte nicht dorthin, woher dieser Kegelclub kommt, der München besucht. Dort, wo ich einst mit dir wohne, kommen uns die Münchner besuchen an ihren freien Tagen und verbringen deren Abende an unserem Bahnhof, weil die BOB überfüllt ist, oder im Stau Richtung Stadt, weil sie am nächsten Morgen zurück müssen in ihre Bürotürme im Norden.«

Du bist ein braves Mädchen, Happiness

Das WLAN in diesem Café, das J. mir vor kurzem erst zeigte, hat hollerschorle als Passwort. Ich halte das für einen guten Grund, regelmäßig hierher zu kommen. Tritt man in durch die unscheinbare Tür in den kleinen Innenraum, stehen links in einer alten Glasvitrine die selbstgebackenen Kuchen, dahinter der Theke, in der altes Porzellan und Glas in einem abgebeizten Schrank auf seinen Einsatz wartet. Rechts stehen vier Tische und ein alter Ohrensessel, in dem ich gewöhnlich sitze. Aus diesem hat man die Eingangstür gut im Blick, genau wie die Kuchen. 

Hoover & Floyd - Theke

Langsam kommen mir Tage aus der Vergangenheit in Erinnerung: Ich bin auf dem Land aufgewachsen; Immer wenn ich einen Satz damit einleite, beginnt das wunderschöne Mädchen zu lachen – als stünden wir in einem Wettbewerb, wessen Dorf weniger Einwohner hatte und weniger Straßen, denn auch sie kommt aus einem (bayerischen) Dorf. Es gibt zwei Menschen, die ich um ihre Herkunft beneide: Sie, denn Dorf ist ein Euphemismus für die alte Mühle im Wald, in der sie ihre Kindheit verbrachte, und T., die ihre Jugend in einem Wasserturm an der Ostsee erlebte. Auf dem Weg an einen der Seen (ich habe vergessen an welchen) kam ich in ein kleines Dorf und stand irgendwann vor einem Turm, in dessen Garten ein alter Mann lag mit einem vergilbten Buch auf dem Bauch. Dieses Bild habe ich seither im Sinn, wenn mich jemand fragt, wie ich später gern einmal wohnen würde: Manchmal seufze ich in den Verkehrslärm hinein, in dem ich ungehört bleibe, die Worte »Wäre das schön in einem Dorf unten am See!«

Hoover & Floyd - Bild

Ich bin auf dem Land aufgewachsen und wie ich bis zu meinem sechzehnten Geburtstag täglich den Bus nutzte, besaß und benutzte ich ab diesem Tag verbrennungsmotorbetriebene Fortbewegungsmittel, wie das auf dem Land nun einmal notwendigerweise üblich ist. In den ersten Jahren hatte ich die Tankkarte meines Vaters, mit der ich ihm verschiedene Löcher ins Konto fuhr. Ich kannte nach zwei Jahren jede Straße im Umkreis der halben Tankreichweite meines Motorrads; aus diesen Tagen stammt die Erfahrung, die sich später in Situationen bezahlt machte, in denen andere böse Unfälle hatten. Dass wir damals fuhren wie Henker, mehr als einmal Glück hatten und statistisch gesehen vielleicht nicht mehr hier sitzen dürften, erzähle ich ihr nicht. Es muss reichen, wenn ich sage: »Ich bin aufgewachsen wie du!«

Hoover & Floyd - Kaffee

Ich erinnere mich an Landstraßen, die durch grüne Hügellandschaften mäanderten und an deren Ende immer ein Freund wohnte: Nur wenige, mit denen man als Dorfkind damals zu tun hatte, stammten zufällig aus dem gleichen Dorf wie man selbst. Ich erinnere mich an Tage, die ich nur deshalb auf der Landstraße verbrachte, weil man Musik besser und lauter im Auto hören konnte. Ein stummer Zeuge aus diesen Tagen: Heute höre ich auf dem rechten Ohr schlechter als links.

Malerwinkel

Als vor drei Tagen ein Foto aus Südtirol von einem meiner Freunde in einem sozialen Netzwerk auftauchte, fragte ich, ob er in zwei Wochen noch in Italien sei. Er verneinte und vier Stunden später saßen wir uns bei einem Kaffee gegenüber. »Das sind die Vorteile«, sagt sie, »vom Leben in einer Stadt.« Ich habe zweimal nachfragen müssen gestern auf unserem Balkon, weil sie rechts von mir saß und der Sightseeing-Bus vor dem Museum hielt, als sie mir das triumphierend erzählte.

Himmelfahrt

Ich habe mir frei genommen. Nicht den vergangenen Donnerstag, der hier sowieso Feiertag ist, sondern die ersten beiden Tage der Woche. Die nächsten einhundertfünfzig Wochen lang.

Alpen

Ich weiß nicht, was ich mit der gewonnenen Zeit anfangen werde; es gibt durchaus einige Verpflichtungen, deren Umfang ich noch nicht kenne. Außerdem habe ich ein paar Ideen, die bisher auf der Strecke geblieben sind aus verschiedenen Gründen. Und es gibt (aus der Erfahrung heraus) stets neue Optionen, wenn man seine Situation ändert und das öffentlich macht. Jedem, dem ich von meiner Entscheidung erzähle, fragt sofort, was ich mit der Freizeit zu tun gedenke und ist einigermaßen enttäuscht, wenn ich ihm sage, dass ich erst einmal nachdenken muss. So phrasenhaft diese Antwort klingt, so ernst ist sie gemeint.

Bäume

Ich habe vor vielen Jahren in der kleinen Stadt oft im Café gesessen, das 1969 im Hinterhof einer Buchhandlung gegründet wurde. Das war zu einer Zeit, in der man stets sicher sein konnte, dass irgendwer zum Reden dort saß; Arbeitskollegen vielleicht, jemand aus dem literarischen Umfeld oder eine, die man von Freunden her kannte. Oft saß und diskutierte ich dort, bei Milchkaffee oder Mate am Fluss, mit der T. und aus dieser Zeit sind mir einige Diskussionen in lebhafter Erinnerung. Später war ich auch mit dem wunderschönen Mädchen dort, doch das war kurz bevor sie die Stadt verließ und ich dann häufiger in Zügen saß als am Ufer des Flusses. Solche Diskussionen sind selten geworden.

Dortsilhouette

Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich weniger Zeit habe als im Sommer 2007 oder damit, dass ich weniger Menschen hier kenne (und vielleicht auch nicht den richtigen Ort), um solche Diskussionen zu führen. Heute sitze ich dafür auf dem Rennrad und wälze meine Gedanken. Aber das ist wie mit jemandem reden, er alle Gedanken schon kennt. Einerseits. Andererseits kommt man natürlich auf neue Ideen, wenn man für sich ist und der italienische Rahmen unter einem monoton surrt. Am Donnerstag zum Beispiel, auf einer Fahrt, die ich mir gerne erspart hätte, die jedoch wegen mehrerer überfüllter Züge vor mir lag, weil man uns den Einstieg verwehrte. Denn manche Ideen gewinnen erst an Gestalt, wenn man im Dunkeln durch Schwärme von Glühwürmchen radelt.

Mähdrescher und Mond

Irgendwann sind sie an Altersschwäche gestorben

Was soll man schon machen, wenn man wimmernd die Oberschenkel reibend im alten Ohrensessel sitzt, weil man gestern am Spitzingsattel übertrieben hat. Torten haben da eine wundervoll schmerzlindernde Funktion, man benötigt nur jemanden in der Nähe, der einem die Torten an den Krankenstuhl bringt und – weil man dahindämmert, mal draußen auf dem Balkon unter dem cremefarbenen Sonnenschirm, mal drinnen im Ohrensessel – der einen rechtzeitig weckt für das Konzert im Brunnenhof der Residenz. Wir wohnen zwar nicht sonderlich weit von der Residenz entfernt und ein Brunnenhof verspricht ebenerdig zu sein, doch ist unsere Wohnung nun einmal nicht ebenerdig. Und mit ein paar tausend Höhenmetern in den Oberschenkeln gerät jedes Stockwerk in einem Treppenhaus zu einem veritablen Hindernis.

Torte

Ich hatte gepackt wie immer und trug einen Tablet-Computer, eines dieser neuartigen Lesegeräte und ein, zwei Bücher auf den Berg und wieder hinunter. Während ich in der Wand stand, mich zwischen Kühen hindurchdrückte und oben mit den Wolken Wer-zuerst-lacht-verliert spielte, überlegte ich, ob und weshalb meine Bücher den gleichen Weg wie meine CDs gehen sollten: In den Keller.

Gipfelbeleuchtung

Kathrin Passig hat eine Linksammlung ins Internet gestellt, in der pro dem digitalen Buch argumentiert wird. Die Contra-Argumente liefert Amazon heutzutage selbst, indem es einzelne Bücher oder gleich ganze Konten jener Kunden löscht, die übermäßig oft von ihrem Rückgaberecht Gebrauch mach(t)en; mit dem Amazon-Konto verliert ein solcher Kunde den Zugriff auf bei Amazon gespeicherte Buchdaten – der Kindle kann auf existierende gekaufte (und ausschließlich bei Amazon gespeicherte) Bücher nicht mehr zugreifen.

Denken

Abgesehen davon, dass ich sowieso der Meinung bin, man sollte Lebensmittel auf dem Bauernmarkt kaufen und Bücher in Läden, in denen Menschen arbeiten, die Bücher lieben, diese Sammeln und liebevoll über Buchrücken streichen, spricht die Einfachheit des Buchkaufs für Amazons Vertriebsstruktur: Rund um die Uhr kann man Bücher kaufen, die wenige Sekunden später bereits auf dem Lesegerät sind. Nebenbei lässt sich bei Literatur, die der fragwürdigen Buchpreisbindung nicht unterliegt, tatsächlich ein beträchtlicher Betrag sparen. Und gestern – wenn man ehrlich ist – hätte ich etwa 300 Gramm weniger getragen.

Abtrieb

In der Landschaft oben am Berg versteht man gut, dass man besser kein Gerät kauft, mit dem man Bücher lediglich lizensiert, diese weder verleihen noch verschenken kann, dessen Batterie in wenigen Jahren verbraucht ist und das man dann nicht mehr weiter benutzen kann. Das ist ein bisschen wie mit diesen neuartigen Fahrrädern mit Stützrädern Hilfsmotor: Als wir uns letztens auf dem Spitzingsattel die verschwitzten Hände reichten, kam eine Gruppe Mittvierziger auf Pedelecs an. Jeder von ihnen trug eine Helmkamera, wahrscheinlich um die Ausfahrt auf Youtube zu dokumentieren.

Abstieg

Doch was erwartet man auch von Menschen in Zeiten, in denen man die Webseite einer Autovermietung findet, wenn man nach »Buchbinder« sucht.

Schienenersatzverkehr

Ich bin als Kind niemals U-Bahn gefahren. Das lag hauptsächlich daran, dass es in der Nähe des Ortes, in dem ich aufgewachsen bin, keine Stadt mit einer U-Bahn-Infrastruktur gab: Die nächste Großstadt lag einhundert Kilometer entfernt, aber wenn wir an Samstagen mit dem Auto anreisten und es auf dem Park-and-Ride-Parkplatz weit vor der Stadtgrenze abstellten, brachte uns eine S-Bahn in die Stadtmitte. Zwar gab es auch keine S-Bahnen in meiner Heimatstadt, aber S-Bahnen kamen mir damals (wie heute) heruntergekommen und schmutzig vor und hatten damit in meiner kindlichen Vorstellung keine Chance, gegen die immer neu und sauber erscheinenden U-Bahnen zu bestehen.

Vor der Arbeit

Einige Jahre später lebte ich für nicht ganz ein Jahr in Frankfurt. Ich studierte das Falsche, um regelmäßig an der Universität zu sein und ebenso unregelmäßig nahm ich folglich die Linie zur Bockenheimer Warte, an der die Universität damals noch lag. Diese unregelmäßigen Fahren ließen das Bild der stets neuen U-Bahnen schließlich verblassen, ich erinnere mich aber noch gut an die alten und schmalen Wagen der Linie U6, die mir über die Zeit mehr ans Herz wuchsen als die tatsächlich neuen und aufgeräumten Wagen der anderen Linien, die ich langweilig und weitläufig fand.

Radeln

Heute lebe ich in München und könnte praktisch jeden Tag U-Bahn fahren, denn die Büroräume der Firma, für die ich den Großteil der Zeit arbeite, liegen im Norden außerhalb der Stadtgrenzen. In den ersten anderthalb Jahren fuhr ich tatsächlich beinahe täglich: Erst zwei Monate in eine Trabantenstadt im Süden und schließlich zu meinem neuen Arbeitgeber in den Norden. Nur ab und zu überredete ich einen Kollegen, mit dem Auto zu fahren und mich mitzunehmen. Dennoch (oder gerade deswegen) habe ich im Dezember meine Jahreskarte zurückgegeben. Nimmt man nicht nur sporadisch die Bahn und wenn man regelmäßig in die Stoßzeiten kommt, verliert die sauberste U-Bahn ihren Reiz. Verglichen mit der Alternative.

Isar

Und vom U-Bahn fahren kommt man schließlich nicht über die Berge bis nach Meran.

Giovanni dalle Bande Nere

Ich hatte mir das so schön vorgestellt: Während das wunderschöne Mädchen beim Sport ist, setze ich mich in einem der alten Cocktailsessel auf den Balkon, lege die Beine auf den alten Klavierschemel und den Laptop auf meine Knie. Dann beantworte ich die aufgelaufenen Mails. Außerdem brauche ich eine kurze Hose, die einigermaßen hübsch aussieht, was bei kurzen Hosen beinahe ein Ding der Unmöglichkeit ist. Und eine neue Tasche für Laptop und -zubehör sowie Kamera und Utensilien brauche ich auch, da ich demnächst wieder mehr in der Stadt unterwegs sein werde – in Cafés – und dort an Projekten arbeiten möchte.

Ferchensee

Das wunderschöne Mädchen ist seit beinahe zwei Stunden unterwegs, sie kommt gleich zurück und ich habe von all jenen Vorsätzen nur das Sitzen und Schreiben erledigt. Nach kurzen Hosen traue ich mich gar nicht zu schauen und wo ich anfangen soll, nach brauchbaren Taschen zu suchen, weiß ich nicht. Außerdem muss ich schließlich noch die eMails schreiben. Doch bevor ich damit anfange, schaue ich mir noch einmal kurz die Bilder von diesem Bergsee an.

Ferchensee

Das ist der Ferchensee, abseits gelegen bei Mittenwald in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen. Wegen der attraktiven Ziele auf dem Weg bleibt er selbst bei schönem Wetter von Münchnern verschont, die an Wochenenden im näheren Umland alles okkupieren. Weil man den See (ähnlich dem Hirschberghaus) nicht einfach per Auto erreicht, sondern von der letzten Parkmöglichkeit noch etwa eine halbe Stunde über einen Pfad einen mücken- und bremsenverseuchten Wald durchqueren und einige Höhenmeter überwinden muss, ist selbst an Samstagen mit Rekordtemperatur nicht allzuviel los und mein Angebot, bereits am Morgen einen Platz zu besetzen und frenetisch zu verteidigen, während die beiden Begleiterinnen drei Stunden auf einen der nahen Gipfel steigen, im Nachhinein völlig überflüssig. Aber mei.

Lautersee

Einen Sonnenbrand habe ich dann doch bekommen, während ich unter einem der ufernahen Bäume lag und etwas über Startups las, ab und zu in die Seemitte schwamm und die Gipfel zu allen Seiten des Wassers beobachtet habe. Die Netzabdeckung war angenehm schlecht, so dass ich nur auszugsweise die Bilder der überfüllten Eisbachwiese im Englischen Garten oder die Badeversuche am Flaucher in meiner Instagram-Timeline sah.

Sonnenuntergang bei Mittenwald

»Hier« sagte ich im Winkel der Stille, als wir abstiegen vom See und uns auf den Weg machten zum Abendbrot auf einer Alm »möchte ich irgendwann einmal ein paar Monate leben.«