Herr Sonnenmann

Hier am Küchentisch beim Frühstück
starb sie Donnerstag halb zehn,
kurz zuvor noch hat sie müde
wilden Schwänen nachgeseh’n

Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich hier richtig bin. Vielmehr bin ich mir sicher, hier nicht mehr richtig zu sein. Das ist ein plötzliches Erkennen, aber keine plötzliche Entwicklung, sondern steht am Ende langer Jahre, die ich weiter Norden in der Stadt gelebt habe, in der Wau Holland begraben liegt, die Marx-Lesekreise unterhält und in der wir gegen die Konservativen und Burschenschaften kämpften, durch verschiedenen Wohnformen, Lebensweisen und in unserer WG. Nach dreieinhalb Jahren in München begreife ich dies Sonntag morgens bei der Lektüre eines Buchs, das mich zurückversetzt in diese Zeit, an Abende in unserem Esszimmer oder am Waldrand, aus dem nachts Freunde auf unser Haus zurannten und an meiner Tür Sturm klopften. 

Hier wohnte Heinrich Heine

Das Studium und die Arbeit hat uns damals noch die Zeit gelassen, die wir brauchten, um Dinge zu erleben, an die ich mich Jahre später erinnere, die hängen blieben und die mit Personen verbunden sind, die ich heute viel zu selten sehe, mit denen ich viel zu selten spreche.

Doch am schönsten war es immer
kam die Enkelin zu ihr,
oh wie war die Luft vor Lachen!
oh wie duftete es hier!
Jeder Quirl wurde lebendig
unter ihrer Kinderhand,
meinen wilden Kachelofen
hat sie Sonnenmann genannt 

Wir halten uns dort oben im Industriegebiet für eine Elite, ohne dass uns das klar ist. Wir sprechen darüber nicht offen, uns stellen sich die Nackenhaare auf, wenn man uns so bezeichnet, weil wir es selbst nicht glauben oder vielmehr: glauben, das nicht zu wollen. Allein wir sind es. R.s erste Worte, als er mir irgendwann ein Werkzeug vorbei brachte, war ein verzweifelter Fluch, den ich damals lachend abtat. Natürlich hatte er recht.

Wir sind Teil dessen geworden, das wir noch zu kritisieren glauben. Wir sind die zahnlosen Tiger, aber wir sind doch die Guten! Nein, das sind wir lange nicht, wir können kaum noch unterscheiden, wer der Gute und wer der Schlechte ist. Ich weiß die Geschichte von einem, der, als er herausfand, dass das Gummi aus der Fabrik seines Arbeitgebers für Schlagstöcke verwendet wird, aufstand, die Fabrik verließ und nie wieder zurückgekehrt ist. Doch uns geht es nur um uns allein: um unsere Verbindlichkeiten, die Dreizimmerwohnung im Herzen der Stadt und den nächsten Urlaub am Meer.

Trotzdem, trotzdem nicht!

Wir sind glattgespülte Kiesel, wir bewegen uns miteinander in die gleiche Richtung. Vielleicht ist das diese Ahnung, die mich seit Monaten zweifeln lässt. Es überrascht mich niemand hier unten – abgesehen von einem – und das Schlimmste ist, ich überrasche mich auch nicht selbst.

Doch Herr Sonnenmann, mein Fenster,
all das Lachen in mir drin
werden bleiben in den Träumen
ihrer kleinen Enkelin 

t: Gerhard Schöne – Die Küche

Es ist – gelinde gesagt – gerade monströs

Ich weiß gerade nicht genau, wo die Zeit bleibt. Vielleicht versickert sie zwischen Studien, die mir uninteressant erscheinen, vielleicht bleibt sie zwischen all den Ideen auf der Strecke, die mir angehenswert vorkommen und nach zwei Tagen ihren Drive verlieren. So habe ich eine Shortlist von Dingen, die darauf warten, abgearbeitet zu werden: Bloggen steht irgendwo an deren Ende und es gibt ja nicht allein dieses Blog zu bespielen.

Ein Mann im Schatten unsrer Museen

Vielleicht sollte ich einmal aufräumen wie dieser dort drüben im Schatten der Museen. Vielleicht sollte ich meine Dinge regeln und vergraben was mich bremst. Vielleicht habe ich in einigen Monaten wieder mehr Zeit – es gibt Leute, die warnen mich nicht zu verschätzen – aber dann muss ich Weichen stellen (das muss ich schon vorher), sortieren, den Dreck von der Gabel kratzen und fahren.

Finemine

Ich bin noch nie einen Marathon gelaufen. Die letzen Versuche, mich für das Laufen zu begeistern, waren mit A., die mich nach dem Training während des Dehnens gleichzeitig faszinierte und demotivierte. Seitdem habe ich eine Ahnung, zu was Körper anderer Menschen fähig sind, nicht aber, ob ich je in der Lage sein werde, einen Marathon in einer passablen Zeit zu absolvieren.

Erdfunkstelle Raisting

Ich habe einmal in meinem Leben einen Wettkampf im Schwimmen bestritten. Nicht, weil ich wahnsinnig talentiert wäre – ich wurde mit großem Abstand Letzter – sondern weil sich das irgendwie ergeben hat. Ich weiß selbst nicht mehr, wie ich in diesen Schimmunterricht und auf die Anmeldeliste des Wettkampfs gelangte, ich weiß lediglich, dass mir meine Eltern noch heute von meiner Begeisterung im Babyschwimmen erzählten. Seen und das Meer üben eine Faszination auf mich aus, stehe ich am Rand. Wenn ich schwimmen soll, bin ich ein Fan gefliester Gewässer und noch immer der langsamste Schwimmer im Becken.

Raistinger Becken

In der Sesamstraße gibt es eine Schnecke, die den Namen Finchen trägt. Ich weiß nicht, ob das damit zu tun hat, dass ich Tom Liwa für sein Lied Finemine danke und mich im Text verlieren kann. Aber wie es sich für den langsamsten Schwimmer der Welt und wie es sich für eine Schnecke gehört, ist dieser Artikel einen Tag zu spät.

Macht ihr den Scheißdreck weil ihr blöd seid?

Heute morgen fand der Kocherlball statt. Nachdem die Tradition der Hausangestellten 1904 aus Mangel an Sittlichkeit verboten wurde, findet sie seit 1989 einmal jährlich wieder statt. Wie der Münchner nun einmal so ist, wirft er sich für einmal jährlich stattfindende Veranstaltungen gern in Lederhosen oder Dirndl, die er für traditionell hält, und rottet sich mich Gleichgesinnten zusammen. Natürlich spielt Bier eine Rolle.

Balkon Links Eintritt frei für das Spektakel der Armen

Heute traf man sich um sechs Uhr im Englischen Garten zum Tanzen, gegen Ende der Veranstaltung sah man die Traditionsbewussten dann verstreut in der Stadt, mir vors Fahrrad laufend in ihren billigen Plastikkleidern auf meinem Weg in die französische Bäckerei.
Der Münchener Chic spielt einmal jährlich die Armen.

Leck mich fett,
das muss echt geil gewesen sein!

Heute nachmittag fallen sie dann mit ihren verschwitzen Körpern in den Englischen Garten oder, wenn sie den Kocherlball rechtzeitig verließen, hinterlassen sie ihre Spuren weiter südlich im See. 

Ein Zaun gegen die Münchener

Gestern teilte ein älterer Münchener die Menschenmenge an der Bushaltestelle vor unserem Haus mit seinem Auto, stellte den Motor ab, parkte, schnaufte sich adipös in die Eisdiele und kam mit drei fetten Kugeln zurück, bevor er zufrieden rückwärts setzte und mit seinem Auto entkam. Jeden Tag sehen wir die Massen der Rücksichtslosen, die alles tun für zwei Kugeln aus dieser Eisdiele, die als Statussymbol gilt, auf dem Radweg parken, vor der Einfahrt in unseren Hof oder gleich in der Bushaltestelle zwischen den Menschen vor unserem Haus.

Das sind bedauerliche Einzelfälle, rücksichtslos und selbstbezogen – asozial im Sinne des Wortes. Natürlich darf man aus ihnen nicht auf die Allgemeinheit schließen in dieser Stadt.
Natürlich nicht.

– t: Eure Mütter

Literature and Latte

Heute morgen schrieb mir eine auf Facebook, dass meine Fotos ihren Lebensstil ganz gut beschreiben. »Glückwunsch«, habe ich mir gedacht, »denn dann lebst Du recht vernünftig.«

Viola Tricolor

Im Übrigen stehe ich der Welt stets wieder mit einem gewissen Unverständnis gegenüber. Ein vatergewordener Kollege erzählte, seine erkennten ihn wieder, wenn er von mehrtägigen Dienstreisen zurückkehrt. Das freue ihn sehr, sei ein tolles Gefühl. Ich freue mich für ihn, obwohl es mich nicht interessiert und frage mich, warum er überhaupt auf mehrtägige Dienstreisen fährt. »Lass‘ die Krabben zu Hause, der Job ruft, ich muss meine Prioritäten setzen und allein der Erkennensfreude wegen arbeite ich jetzt zehn Stunden am Tag ohne dass meine Kinder mich sehen!«
Natürlich, der Job und oh! die Karriere.

Arbeit! Arbeit! Arbeit!

Das sind die Väter, die Emanzipation fordern, das ist der moderne Mann. Heute gilt als modern, der die zwei Monate Elternzeit nimmt und sich ansonsten verhält wie der eigene Großvater. Natürlich! Irgendwer muss schließlich das Geld verdienen und die Familie ernähren. Zur Sicherheit (und wegen der Rente!) in einem Achtstundentag-Angestelltenverhältnis und klar, die Frau kümmert sich – das ist doch natürlich! – um die Nachgeburt. Ja, Opa!
Es hat sich natürlich nichts verändert. Außer: Der moderne Vater lädt sein Heimchen zu sich ins Büro, geht stolz durch die Flure (er schiebt dann den Wagen oder trägt sein Kind stolz auf dem Arm), die Frau still nebenher wie ein Fremdkörper, der sie ist im Habitat des Vaters, der sich gerade vor anderen beweist: »Alle mal herkucken, Leute: Ich hab’ mich fortgepflanzt!«

Alter Mann

Liebe Eltern. Wie kommt ihr eigentlich darauf, dass euer Kind mich interessiert? Es interessiert mich nicht, auch dann nicht, wenn ihr es vor meine Füße legt. Mich interessiert sein Stuhlgang nicht, ob es krabbeln kann oder rülpst. Mich interessiert nicht, welche Eltern im Kindergarten eurer Kinder blöd sind und dass es gestern im Schwimmbad schön war oder schlimm. Ich will nicht über dein Kind reden; ich will nicht mit Dir reden, wenn Du kein anderes Thema mehr kennst. 

Bialetti Moka Express

Während ihr in den Eltern-Kind-Cafés sitzt laboriere ich an einem alten Problem. Es gibt dieses eine Programm, das ich nicht wirklich brauche. Und doch zuckt mein Finger stets über dem Bestellknopf, allein weil die Firma einen solch schönen Namen trägt, den sich dieser Beitrag hier als Titel geliehen hat. Und da sage einer, Details sind nicht wichtig. Ich trinke derweil einen italienischen Espresso, über dessen Farbe ihr beim Stuhl eures Kindes frohlockt.

Viola Tricolor

Da sind wir also am See. Heute vormittag haben wir die Stadt verlassen, weil es hier einen Schreiner gibt, der sich nach der Streichung der Fördergelder für ein Projekt, in dem er mit Jugendlichen alte Möbel restauriert und wieder verkauft hat, selbständig machte und nun an der Hauptstraße im Erdgeschoss seines Hauses das gleiche macht wie vorher, nur eben ohne Jugendliche. Das alte Projekt war natürlich nicht rentabel und wahrscheinlich vermochte niemand seinen Erfolg zu bewerten, ein Preisschild an ein soziales Programm zu heften. Er sagt nur: »Manche haben das Besserwissen eben studiert«. Dann raucht er in der Tür.

Vitrine

Im Erdgeschoss finden wir nicht, was wir suchen, doch er erwähnt eine Scheune vor den Toren des Orts, die ebenfalls ihm gehört und wo weitere Möbel – teilweise unrestauriert – stehen. Weil er Zeit hat, bietet er an, dass wir uns nach Geschäftsschluss dort treffen und um kurz nach zwei heute Mittag stehen wir dort. Er ist nur zwei Minuten früher angekommen und räumt noch Dinge aus seinem Fünfzehnhunderter Fiat, den er seit seinen Lehrjahren fährt. »Seit fast vierzig Jahren« sagt er, lacht und öffnet die Scheune.

Uhr

Kuchen

Und so kamen wir noch zu unserem Schrank, der jetzt in jenem Auto liegt, mit dem die Damen in die Oper gefahren sind. Ich stattdessen sitze auf dem Balkon, esse zu viel Kuchen und schaue hinüber zur Kampenwand. Es ist wie nach Hause kommen, es gibt schlimmere Tage als diesen und es gibt furchtbarere Menschen als ihn. Hier kommt alles zusammen, der Ort und der See, sie meinen es gut.

Vaterland

Aus der Reihe »Veraltete Konzepte« präsentiere ich heute: Dynamo und Vaterland.

Vaterland

Das Rad stand etwas nördlich vor dem Türkenhof, eine Querstraße weiter hielt die Polizei eine offensichtlich irgendwie auf Drogen-seiende Frau fest. Ein junger Polizist trug einen gepflegten Führerscheitel, gegenüber frühstückte der Münchner Chic im Vorstadtcafé und fühlte sich vielleicht an seine RTL-II-Vorabendserien erinnert. 

Dort oben war das Vaterland.

Es irrt der Mensch, solang‘ er strebt

Gestern morgen erreichte mich der Anruf auf dem Rad an der Isar, dass unter unserer Wohnung Wasser von der Decke tropft. Aus mir nicht bekannten Gründen war das gestern nicht dringend, abends entdeckten wir dann die Wasserflecken unter der Spüle.

De Rosa AL+

Heute morgen erreichte mich der Anruf im Englischen Garten, in dem Moment, in dem mich ein Freund am Chinesischen Turm erreichte. Wir saßen dann in der Sonne, weil die Handwerker sich verspäten würden, und tranken in dem gerade eröffnenden Kaffee einen Espresso. Und seitdem bin ich mit Handwerkern umgeben: Innen stemmen sie die Rohre aus der Wand und draußen beginnen sie den seit Wochen gesperrten Balkon zu renovieren.

Colnago C50 am Wasser – das Rad für Italien

Übermorgen werde ich von oben auf den Kalterer See schauen und dieses Hämmern und den Gestank von Lösungsmittel verdrängen. Denn seine Ansage ist klar: Einen Pass sollten wir am Freitag aber noch schaffen!

Immer dieses Streben nach Hohem…

– t: Goethe

Am Krankenbett, Folge 4

Langsam kann ich wieder denken – was gut ist.
Ich habe fast eine Woche meine Kontaktlinsen nicht getragen – was gut ist (sonst hätte ich immer noch Apfelsaft im Auge).
Es blieben über die Woche einige Dinge liegen, die abzuarbeiten ich mich bemühe. Aber am Freitag fahre ich nach Italien in die Berge, und dies ist für das Abarbeiten ein gewisses Problem. Außerdem warten dort unten andere Sachen, auf die werde ich mich in der Lobby des Roten Adlers lieber fixieren. Und jene Sachen und die vorher angesprochenen Dinge sind grundsätzlich verschieden, sie schließen sich aus.

Privat

Im Bett liegen ist langweilig, wenn man den See nicht sehen kann und nicht die Berge. Mir schien die Krankheit dieses Mal lang, doch das wunderschöne Mädchen sagte: »wie immer«. So lange das Verdrängen noch funktioniert, bleibe ich auf der Seite der Sieger.

Bei uns auf dem Land

Ich habe nun in jenem seltsamen Zustand erreicht, in dem an sämtlichen Fahrrädern alle Kleinigkeiten und Einstellungen erledigt sind. Da war gestern noch einmal ein verregneter Nachmittag im Fahrradkeller, da war der zerlegte Antriebsstrang des Alltagsrads, der mich immer beim Anfahren an der Ampel oder draußen in der alten Heide neben dem Fußballstadion genervt hat, weil das Klacken die letzten Wildvögel verscheuchte, die von den Rollgeräuschen des Rades allein noch keinen Reißaus genommen hatten. Und weil dieses Rad ja nun Probe gefahren werden will – ja: muss! – sitze ich nun in diesem Café in der Nähe des kleinen Schlosses im Westen der Stadt und esse Tarte. 

Café Karameel, München

Unter dem geschwungenen Spiegel an der Wand gegenüber des Eingangs steht ein kleiner Tisch für zwei Personen. Daran haben sich vor wenigen Minuten zwei junge Männer niedergelassen; einer trägt ein weißes und einer ein blaues T-Shirt mit Ryan-Air-Aufdruck. In diesen Momenten würde ich gern mit dem Finger auf Menschen zeigen und rufen »Da da da«, damit auch sie all diese Situationen sieht, die mir täglich passieren. Und dann würden wir diskutieren und am Ende würde ich endlich den Satz widerlegen, dass auf dem Land auch solche Dinge geschehen.

Teich vor Deich

Auf dem Land, auf dem ich einmal lebe, geschieht dergleichen nicht. Dort entblödet sich niemand, mit einem Ryan-Air-T-Shirt zu sitzen, weil man zum Saufen schließlich in die Dorfkneipe geht und nicht den Billigflieger nimmt auf eine spanische Insel. Dort stehen keine betrunken Burschenschafter auf der anderen Straßenseite und singen nachts um halb drei und dort stehen sie nichts tagsüber in einer fünfzig Meter langen Schlange vor einer hippen Eisdiele, die in ihrem ,,Stammhaus’’ (wie das neu angeschlagene Schild nachdrücklich unterstreicht) für jede Kugel eineurofünfzig verlangt. Dass Herr Ballabeni eineurofünfzig verlangt, kann ich ihm nicht verübeln, nimmt er damit die Burschenschafter und die Münchener Schickeria aus und lässt sich seinen fünfmonatigen Winterurlaub finanzieren. Es ist nur blöd, dass auch mir sein Eis wirklich gut schmeckt.

Einspeichung hilft

Bei uns auf dem Land gibt es stattdessen eine direkte Auffahrt zum Pass und an den meisten Tagen des Jahres scheint bei uns die Sonne. Freunde kommen auf unseren Hof und wir versammeln uns abends vor dem alten Kamin.
Wenn du mich fragst, ich könnte nun umziehen, hier habe ich alles erledigt; die Räder wären soweit. Ich könnte höchstens noch die Bremsbeläge auswechseln. Aber wer braucht schon Bremsen?