Etwas, das ich noch nicht schreiben kann

Hier liegt ein Artikel, den ich noch nicht posten kann. Das ist ein Dilemma, denn ich habe mir vorgenommen, öfter zu schreiben und dann schreibe ich Texte, die ich nicht vorzeigen kann. Vielleicht hätte ich vor einigen Jahren den Text unbedacht ins Internet gestellt, aber so etwas kann Folgen haben, wenn nicht sofort vielleicht in ein paar Jahren. Aus diesem Grund hörte Christopher Lauer vor Monaten bereits auf zu twittern. Es geht hier nicht um Piraten, es geht um eine Beobachtung, die auch mich umtreibt. Ich habe eines dieser modernen Smartphones mit unglaublich schlechtem Empfang und ziemlich guter Kamera; viele Fotos stammen dorther. Ich habe stets meinen Kalender dabei, twittere von unterwegs und wenn ich Leerlauf habe, lese ich meine RSS-Feeds oder Artikel, die ich lange schon lesen wollte. Zeitweise trage ich mein altes silbernes Telefon durch die Gegend, das man nur einmal pro Woche aufladen muss. Es ist ein innerer Kampf, den ich fechte, und noch gewinnt ihn das iPhone.

Ich, Du, ihr, wir!

Es ist Distraktion, die mich stört. Früher ging ich mit einem Stapel Zeitungen ins Café, in dieser Zeit lernte ich das wunderschöne Mädchen kennen. Heute trage ich den Laptop herum, vielleicht das Tablet, sicher das Smartphone. Das letzte Mal bewusst auf Papier geschrieben (Artikel, die hinterher hier gelandet sind) habe ich vor vielen Jahren am See, als ich noch nicht in dieser Gegend gelebt habe. Mich erfasst mittlerweile eine Unruhe, wenn nichts passiert. Das ist die Entwicklung, die mir nicht gefällt. Ich glaube, auf Twitter etwas zu verpassen (und ich weiß: ich verpasse nichts), die gleichgeschalteten Medien lese ich in den letzten Jahren deutlich weniger als zuvor, einen Fernseher besitze ich seit Jahren nicht mehr. Mein Friseur erzählt, seit er überhaupt keine Nachrichten mehr konsumiert, geht es ihm besser und er hat mehr Zeit. Geändert hat sich für ihn naturgemäß nichts. 

Die Kladde

Der erste Eintrag ist vom dritten Dezember 2007 und ist ein Gedicht. Er beginnt auf der dritten Seite des kleinen Büchleins, das ich mir wenige Tage zuvor gekauft hatte, um meine Gedanken zu ordnen. Die beiden davor liegenden Seiten enthalten allerhand: eine Packlist, Telefonnummern, einige Zeichnungen und einen Reiseplan mit Stationen aus dem Dezember, in dem ich das wunderschöne Mädchen das erste mal am Chiemsee getroffen habe.

Libros

Den See kenne ich – wenngleich er doch weit entfernt gewesen ist – zu diesem Zeitpunkt schon länger. Damals gab es, wenn man den Hauptbahnhof aus dem Schaltergebäude verließ, linker Hand auf der gegenüberliegenden Straßenseide eine kleines Fotogeschäft, in dem es Fotografenbedarf zu kaufen gab und die Möglichkeit, Portraitaufnahmen zu machen. Durchquerte man diesen ersten Raum, kam man in einen größeren mit Regalen voller Schokolade und Kaffeehausutensilien. Es gab, wenn ich mich recht entsinne, drei kleine Tische und eine alte, beeindruckend große und laute Siebträgermaschine. Im Sommer kamen noch fünf Tische im Garten des Hauses dazu an denen man zwischen spielenden Kindern auf den nächsten Zug warten oder ankommen konnte – je nachdem, ob man den See gerade verließ oder erreichte. Es war natürlich (besonders im Winter und bei schlechtem Wetter) ein Glücksspiel, ob man einen freien Platz bekam; in meiner Erinnerung gibt es jedoch keine Situation, in der ich unverrichteter Dinge gehen musste – vielleicht, weil ich damals überwiegend allein reiste und man allein stets einen Raum finden kann.

Notizbuch

Blättert man weiter, reihen sich Texte an Texte, selten Gedichte, unterbrochen von losen Aufzeichnungen, die oft auf Reisen entstanden, spanischen Busfahrplänen und norwegischen Zugverbindungen, Adressen von Hostels und Telefonnummern mit ausländischer Vorwahl. Manchmal finden sich Gedankenfetzen auf einer sonst leeren Seite und die Handschrift von guten und vermissten Freunden, die ich oft seit Jahren nicht sah. Immer wieder fallen fehlende Seiten ins Auge wegen der Risskanten oder einer gelockerten Bindung, an der ich die Blätter heraustrennte, die ich oftmals als Brief versendet habe. Und doch wurde das Buch über die Jahre nicht dünner; heute ist es umfangreich wie niemals zuvor, die Bindung nur und mühsam gehalten von zwei Streifen Gewebeklebeband.

Notizbuch und Karten

Auf der letzten Seite der Kladde gibt es eine Falttasche, die mittlerweile gefüllt ist mit den Fundstücken verschiedener Reisen. Hier finden sich Briefmarken und -umschläge, Fahrkarten aus verschiedenen Städten, die dort vergessen liegen und unzählige Postkarten, die ich stets sammelte mit dem Vorsatz sie zu vesenden und die mir dann stets zu schade vorkamen (oder – das häufiger – die ich einfach vergaß). Hier schließt sich der Kreis: auf manchen der Karten steht in einer vertrauten Handschrift eine Adresse, die sich auch auf den ersten zwei Seiten des Notizbuches findet. Damals, vor fast fünfeinhalb Jahren, eine Adresse, die mir eine Schlafstatt versprach. Heute, als Absenderadresse auf mehreren Karten, mich zu erinnern, wo ich das wunderschöne Mädchen stets finde.

André Campra und die Rechnung, die ich ihm stelle

Das mit den Folgekosten ist ja immer so eine Sache: Man entdeckt irgendwo etwas, das sich passgenau ins eigene Leben und in die eigene Situation passen würde, einige Zeit später fällt die Entscheidung dafür. Was man oft übersieht, ist der Aufwand, der sich aus der neuen Errungenschaft direkt ergibt: beim Carbon-Rennrad sind das die Fahrradbekleidung, die Laufräder und all die kleinen Ersatzteile, bei Büchern sind das die Regalmeter, die sich beinahe wie von selbst füllen und bei den neuen Lautsprechern ist das dann gleich die ganze Kette aus Zuspieler, Verstärker und den entsprechenden Kabeln.

Kimber Kable

Dieser Text über Folgekosten hat jedoch nur zum Teil damit zu tun, dass ich – mehr zufällig – vor einigen Wochen am See deutsche Lautsprecher, einen englischen Verstärker und einen französischen CD-Spieler in eine Wohnung getragen und später bei Torte und Tee auf jener Anlage eine italienische CD mit Musik aus dem 17./18. Jahrhundert gehört habe: das zeigt rasch die Unzulänglichkeiten der eigenen Musikkomponenten, die vielleicht nicht furchtbar schlecht, aber eben auch nicht furchtbar gut sind. Wenn ich weiß, wie etwas klingen sollte, das zu Hause jedoch (nicht schmeichelhaft) anders klingt, muss ich das ändern. In diesem Falle beginnt es mit dem Surfen im Netz, dem Lesen von Meinungen und den abenteuerlichen Berichten einer Audiophilen-Gazette und Preislisten, die einem bei eBay ersteigerten Kabel beilagen, das später die Lautsprecher mit einem neuen Verstärker verbinden wird. 

Duevel Planets

Der andere Grund ist die Veränderung des eigenen Musikgeschmacks über die Jahre: wie ich früher keinen Spinat aß, schätze ich ihn heute doch sehr; wie ich damals wenig mit Klassik anfangen konnte, entdecke ich dieses Feld gerade für mich – eingeschränkt gilt dies auch für Jazz. Dafür sind Tocotronic und Locas in Love seltener geworden. Sowieso höre ich seltener Musik als vor einem Jahrzehnt und die meisten Rockkonzerte sind mir zu laut geworden. Das eine habe ich doch gemerkt: Die Boxen klingen auch mit Tocotronic sehr gut; das wird mit einem neuen CD-Player, mit einem neuen Verstärker noch einmal um einiges besser! Und dann klingt nicht nur die italienische CD wie sie sollte, dann spielt auch Abdullah Ibrahim wie vor Wochen im Prinzregententheater.

The Melody at Night, with You

Bevor ich vor einigen Jahren meine digitalen Tonträger in Kisten verstaute und auf den Dachboden der alten WG trug, schaute ich diejenigen Menschen verwundert an, die fragten, warum ich denn noch CDs kaufe. Eines der Argumente war, dass man beinahe den gleichen Preis für eine download-only Version eines Albums bezahlt, dafür auf oft liebevoll gestaltetes Artwork und den Beipackzettel samt Liner Notes und die Möglichkeit verzichtet, Musik bewusst zu hören: eine CD bewusst auszusuchen, den CD-Player und die Anlage zu verwenden, um gemütlich mit geschlossenen Augen auf dem Sofa zu liegen und in der Musik zu versinken. Download-Versionen sind darüber hinaus prinzipbedingt niemals limitiert und eine Sonderausgabe verliert in einem Download-Shop ihren Glanz.

Abdulla Ibrahim

Wenn man mich Monate später dann fragte, als die Tonträger gut verpackt unter dem Dach und später im Keller standen, warum ich Musik ausschließlich bei iTunes beziehe, schaute ich diejenigen verwundert an, warum ich für den beinahe gleichen Preis Staubfänger ins Regal räumen sollte, die darüber hinaus im Weg stehen würden. Weiters ist die Musik online mit einem Mausklick zu kaufen – auch Sonntags! – und gleich dort, wo sie sein sollte: auf den iPods und iPhones, auf der alten Apple-Box, über die ich all diese Stücke auch über die Stereoanlage hören kann ohne aufstehen und einen Tonträger einlegen zu müssen.

Wharfedale

Heute nachmittag saß ich Stunden in einem kleinen Geschäft vor einem CD-Spieler, Stapel von Tonträgern neben mir: ich habe bewusst Musik gehört, ausgesucht mehr, und war überrascht, dass download-only doch deutlich billiger ist. Vielleicht liegt das an den Musikverlagen, die mich interessieren: alte Musik aus Spanien ist teurer, ebenso der Jazz eines Münchener Labels. Er, erzählte der Freund letzte Woche, genießt die bewusste Entscheidung für Musik und deren bewussten Auswahlprozess, und ich fühlte mich erwischt in jenem Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich Musik seit Jahren schon beinahe nicht mehr genieße, sondern herunterschlinge, unaufmerksam, oft neben anderer Tätigkeit.

Abdulla Ibrahim, Keith Jarrett, Antonio Vivaldi, André Campra

Ich erinnerte mich heute Nachmittag in diesem Geschäft an das Gefühl, wenn ich früher nach der Schule den Plattenladen besuchte, vieles vor dem Kauf gar nicht erst anhörte, weil ich stets anhand der Bands und der Labels wusste, was mich erwartet; naturgemäß nicht genau – das blieb jenem Moment vorbehalten, in dem ich in aufgeregt-erwartender Stimmung die CDs zum ersten Mal in den Spieler legte und mich auf das Sofa, die Liner Notes im Booklet zu lesen, als die Musik noch etwas Besonderes war.

One Hit Single

Wir sitzen oft drüben – von meinem Platz im Ohrensessel aus gesehen – am Fenster mit Blick auf die Birken, denen unser Haus Platz ließ in den fünfziger Jahren, als der Architekt sich gegen den Wahnsinn entschied, dem man in den Prachtstraßen ständig begegnet. Dort also, nicht nur zurückversetzt sondern auch oberhalb der Schlange, die während des gesamten Sommers auf dem Gehweg mäandert, ein Eis bei Ballabeni zu essen, von dem man sich sogar in Architekturvorlesungen in Hessen erzählt. Während sie unten eine halbe Stunde anstehen für – zugegebenermaßen – hervorragendes Eis, lehnt man sich oben zurück und wartet, bis die Schlange auf ein erholsames Maß geschrumpft ist, steht auf und kühlt sich im steinernen Treppenhaus noch einmal ab, um wenig später das Eis zurück in der Wohnung (am Fenster!) an jenem Fenster zu genießen.

Seilbahn zum Gipfel

Gefühlt sind wir von dieser Zeit Monate entfernt, noch am Samstag kletterten wir vereiste Passagen auf dem Gipfel des Wallbergs. Doch Ballabeni hat seitdem seinen Laden geöffnet, der Freund bereitet seine Abreise vor nach Italien, das wunderschöne Mädchen kämpft langsam mit den Blüten der Birken und immer öfter bricht die Sonne durch die tief hängenden Wolken.

Gipfelkirche Wallberg

Es wird langsam Zeit, ich sitze schon drüben am Fenster, nur der Rest fällt mir schwer. Es sind die Wochen, zwischen denen ich lebe; ich probiere ein bisschen was aus (doch eher in mir als äußerlich sichtbar) und finde kein befriedigendes Ergebnis, ich finde nur Gründe. Ich habe eine Ahnung, und während ich anderen sage, sie müssten gehen, bleibe ich (vielleicht zu lange) stehen:

Go into the Knautschzone.

(Hub Munich, via workartists.de)

Mehta

Air

Auf einmal ist alles still. Und auf einmal, noch in den ersten Takten, hält das Gefühl Einzug, das ich zum letzten Mal hatte in der Berliner Philharmonie, dass diese Töne sich unterscheiden von allem, was ich normalerweise höre. Mein Gehör ist nicht geübt, weniger als das Filigrane höre ich mit dem Bauch; ich bin mir bewusst, wie viel mir entgeht und dass doch in eben diesen Dingen jenes Gefühl begründet liegt, das ich nur aus Konzerthäusern kenne.

Dabei kommt es so unvermittelt wie dieses Stück, das nicht auf dem Programm steht. Wegen eines Todesfalls wurde es eingeschoben wie die anschließende Gedenkminute – eine Stille aus mehr als zweitausend Kehlen. Mir widerstrebt alles, von einem Glücksfall zu schreiben.

Road

Mazeppa

Von außen betrachtet fällt manchen auf, dass ich gerade verstärkt Bücher erwerbe. Das ist ein Zeichen, dass sich etwas ändert, dass mich etwas genau interessiert: dann kaufe ich alles, was man zum Einlesen braucht. Mir selbst als Betriebsblindem wird dabei noch klar, dass die Berge der Schriften deutlich zeichnen, dass es um mehr geht als eine alltägliche Entscheidung. Ein Gedanken bricht sich die Bahn, ein Gedanke, den ich so stark nie wähnte, darüber bin ich selbst überrascht.

Bench

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2

In manchen Interviews mit Künstlern findet man diesen Satz, dass Kunst unreflektiert passiert. Ich habe dies stets für die Koketterie gehalten der kunstschaffenden Klasse, und natürlich ist es vom eigenen Falle insofern verschieden, dass keine Kunst mich umtreibt. Wenn ich heute vage bleibe, bitte ich das zu verzeihen: Es ist wie der erste Schritt auf dem zugefrorenen See am Anfang eines Winters der Kindheit, in dem man nicht weiß, ob das Eis bereits trägt. Ich bin tatsächlich noch jenseits des Eises und vielleicht ist das bloß eine Phase – über die Jahre misstrau‘ ich mir selbst. Ich weiß nicht, ob sich viel mehr ändert, als dass die Bücherwände sich füllen. »Es wäre«, denke ich mir jetzt oft, »aber mal an der Zeit.«

HFF

Symphonie Nr. 5

Das Gefühl aus dem Air gab es später nicht mehr. Zum ersten Mal habe ich verstanden und mit eigenen Ohren gehört, warum der Münchner Gasteig kein gutes Konzerthaus ist. Es muss sich etwas ändern, um in dreißig Jahren nicht immer noch auf den Rängen zu sitzen, altersmild dann wie Zweitausend um mich herum. »In der Musik«, sagt man, »liegen die Werte des Lebens.«

Where I found you

Man kann mehrere einhundert Euro ausgeben an einem Wochenende für Bücher. Das ist – sagen die einen – eine der Launen, die wir von Dir kennen, das ist – sage ich – vielleicht der letzte Versuch. Ich habe letztens den Satz gelesen von dem, der sagte, er lässt sich nicht nieder für ein langweiliges Leben; und ich bin mir nicht sicher, warum ich diese Worte mit mir herumtrage seit Tagen, rekapituliere im Kopf. 

Wo ist unten, wo oben?

Das ist kein Ying und kein Yang, das ist nicht Feng Shui. Das ist nicht der Kampf zwischen Bibliomanie und dem Bedürfnis, kaum zu besitzen. Die Verzweiflung, die sich Bahn bricht, wenn ich jemanden langsam tippen sehe oder die Maus benutzen, entspringt nicht dem Effizienzwahn, unter dem wer kollabiert. Im Wesentlichen alles okay, wie es ist, habe ich heute herausgefunden (in einer klinischen Studie). Es ist alles okay, mir bleiben noch beinahe sechzig Jahre, nicht zu verzweifeln, vielleicht sogar ein paar Jahre mehr.

Wie wir leben wollen

Es gilt das gesprochene Wort; ein Masterplan der zwischen uns zirkuliert und den Namen trägt eines Sees in der Nähe mit einer Jahreszahl hintenan. Eine – wie man heute sagt – Zielvereinbarung zwischen Gleichgesinnten angesichts einer Reihe Projekte, die wir beide nicht kennen. Ein Masterplan, der zwischen uns ruht. Im Moment, sagst Du, ist doch alles okay. Ein Echo der Worte eines Freundes im Kopf und die Unsicherheit hinter der Frage »machen wir uns was vor?« Nimm Dir eine Stunde mit wem, den ich kenne: eine klinische Studie. Wir sehen uns am See, dort kannst Du mich finden, wenn Du mich suchst.

Sachschaden und Dachschaden

Sachschaden und Dachschaden hießen zwei Brüder, die auf unsere Schule gingen. Sie hießen naturgemäß anders, doch Sachschaden und Dachschaden war uns stets ein Begriff, wenngleich ich nicht mit ihnen in einer Klassenstufe gewesen bin. Ich habe ihren wirklichen Namen vergessen; nicht aus Bosheit, sondern weil ich wirkliche Namen oftmals vergesse und mich nur lückenhaft an meine Schulzeit erinnere. Ist das ein Fluch oder Segen, nicht mehr zu wissen, mit wem man auf der Grundschule war? Das wunderschöne Mädchen hingegen bekommt sogar Einladungen für Grundschulklassentreffen und kann sich an alle Gesichter erinnern.

Schlund

Es ist nun nicht so, dass ich meine Freunde vergesse. Allerdings sagen mir manche Namen nichts mehr, doch wenigstens für den Abiturjahrgang habe ich ein Buch zur Hand, in dem ich neben dem Namen ein Foto finde, manchmal sagt mir tatsächlich das Foto auch nichts. Auf dem Abiturtreffen vor fünf Jahren war ich zwar nicht überrascht, wer dort mit mir im Gastraum saß, doch kam die Erinnerung an einige Gesichter erst im Gespräch zurück, das Nichts wich einer leisen Ahnung, wer derjenige war, mit dem man sich unterhielt. Das jedoch passierte selten genug: noch immer blieben die Gruppen für sich, sie kennen sich, vermischen sich nicht. Beiderseitiges Desinteresse zumeist, Freundschaft und Respekt hat sich nicht verändert über die Zeit.

Vereinsheim

Dieses Jahr (wie alle fünf Jahre) passiert wieder ein Treffen des Jahrgangs und ich plane ebenfalls die Reise zurück. Teils aus voyeuristischen Gründen, teils aus Gründen, alte Freunde zu treffen (oder besser: Diejenigen, die mir damals Freund waren). Es ist ein seltener Abend, manche Lehrer, sogar mancher Schulkamerad ist bereits tot. Ich bin nicht nostalgisch – sogar einigermaßen gut im Abbruch älterer Brücken – ich bin interessiert, wer dort sitzen wird. Ich werde mich bestmöglich durch den Abend spülen lassen, das hat bisher stets funktioniert. Mein kleines Erlebnis, auf der Suche nach dem Leben der Anderen.
Wie mich auch brennend interessieren würde, was Sachschaden und Dachschaden so machen. Wüsste ich nur ihre Namen.

Wir laden uns jemand Gefährlichen zum Tee ein

Oft, wenn ich an Wochenenden von einem der Seen nach Hause komme, sitze ich einige Tage später im Ohrensessel und überlege. Ich kann mittlerweile die Uhr danach stellen, diese Phasen kommen häufiger als in den Jahren zuvor. Es wird also dringlicher, vielleicht weil ich gehäuft das Andere sehe, weil ich näher bin als in den Jahren weiter oben im Norden, weil ich Leute kennengelernt habe, die nicht meine Geschichte teilen und vielleicht weil es einfach ist, in dieser Stadt unzufrieden zu sein.

Blick von der Neureuth

Seit dem letzten Wochenende ist etwas Wichtiges passiert. Nicht, dass ich die Krise gerade nicht hätte – ich sitze mitten in ihr – aber jemand hat etwas gesagt und etwas geschrieben, was ich im Ohrensessel verdränge: dass diese Stadt ihre positiven Eigenschaften hat. Da sind die Cafés und Antiquariate – ich selbst sage immer, hier zu leben ist schön, weil alles in Laufnähe ist – der Bioladen, in dem man sich duzt und Rezeptvorschläge bekommt und die Reinigung, in der man mich vermisst, seit ich keine Anzüge mehr trage und sich doch jedes Mal freut, wenn ich komme, meinen Vornamen kennt. All das weiß ich, wenn ich im Ohrensessel sitze unter den Bücher zu meiner Rechten, die beruhigend in den Raum schauen, in ein warmes Licht getaucht von den beiden alten Lampen, am Ende des Raumes das Stövchen, das ein diffuses Licht durch den Tee schickt. Ich weiß das, so lange ich das Fenster nicht öffne und die unsäglichen Fahrzeugkolonnen die Ruhe vertreiben oder ein Bus an der Haltestelle ein sonores Wummern erzeugt, das man beinahe mehr spürt als man hört.

Kurz vor der Neureuth

München ist auf seine Art allerdings auch seltsam lächerlich, und vielleicht ist es das, was mich im Ohrensessel umtreibt. Diese Art bleibt zurück wenn man an die Seen flüchtet, wartet, während man eine Stunde entfernt einen Rennrodel durch den Wald zieht hinauf zu der Hütte, dem letzten Ziel vor der Abfahrt. Ich habe das letzten Sonntag zum ersten Mal gemacht (zumindest mit einem Rennrodel); Der Freund erklärt mir die wenigen Dinge, die man wissen muss, durch die Kurven zu kommen. Oben denke ich noch, mit dem wenigen Wissen käme ich niemals heil wieder runter, doch in den letzten beiden Kurven überhole ich dann einen Jungen und dessen Vater.

Rennrodel

Die Rodelstrecke, der Berg, dieser See sind mit dem Zug eine Stunde Fahrzeit entfernt. Mein Büro liegt im Norden von München, man kann die Alpen sehen von dort. Statt einer Stunde Zug fahre ich Rad, durch den Englischen Garten und an der Isar entlang. Doch die Phasen kommen häufiger als in den Jahren zuvor. Vielleicht muss sich irgendwann etwas ändern.

Blick von der Neureuth

Abends im Ohrensessel versuche ich vernünftig zu argumentieren. Kalt war’s, in München ist’s wärmer. Ich weiß, das ist halbgar. »Und ausserdem, wer braucht schon Zehen?«

Auf dem Heimweg von der Rodelbahn

– t: Flowerpornoes – Das Wort Erde