Zeugnistag

Ich wundere mich, mit wem sie die ganze Zeit telefoniert, während ich in der Küche noch das Geschirr und die Töpfe abspüle. Sie hat den Brief meiner Mutter entdeckt, den großen braunen Umschlag, der heute Nachmittag kam. Als ich das Gefühl habe, sie stellt eine Frage, finde ich sie im großen Ohrensessel, kopfschüttelnd über den Stapel Dokumente hinweg lachend deutet sie mit dem Finger auf eine bestimmte Papierstelle und fragt ungläubig: »Eine Vier in Religion?«

Eine Vier in Religion

Meine Mutter schickte die gesammelten Zeugnisse meiner Schullaufbahn per Post. Jedenfalls die bis einschließlich Klasse 10, die späteren bleiben verschollen.

Ich erinnere mich, dass Schule und ich immer recht unterschiedliche Interessen vertraten, doch wie sich das im Einzelnen ausprägte, verdämmerte dankenswerterweise im Vergessen.

Bis gestern.

Ich kann also nicht behaupten, ein guter Schüler gewesen zu sein. Ich kann eigentlich auch nicht behaupten, ein sonderlich interessierter Schüler gewesen zu sein. Jedenfalls sagen das meine Lehrer. Mein Vater erzählt auf Familienfeiern oft von dem Satz »Niels schaut lieber aus dem Fenster als dem Unterricht zu folgen.« Ich weiß jetzt sicher, diesen Satz hat es so nie gegeben, jedenfalls nicht in schriftlicher Form auf einem Zeugnis. Die Beurteilungen aus den ersten beiden Schuljahren enthalten noch keine Noten, sie erfolgten ganzheitlich (…) und in prosaischem Stil. Auch wenn es den Satz meines Vaters nicht gibt, inhaltlich ist er zu finden.

Ich komme immer unter Zeitdruck

Als ich vor mehr als zwei Jahren in die Arbeitslosigkeit ging, heraus aus einem Bürokraten- und Verwalterjob, den ich nach drei Wochen in der Probezeit gekündigt habe – einem Trugbild erlegen habe ich mich als Unternehmensberater anstellen lassen – forderte mich eine der Firmen auf, bei denen ich mich bewarb, bitte auf jeden Fall noch mein Abiturzeugnis einzureichen. An jenem Punkt war die Kommunikation von meiner Seite beendet, da ich – nach mehreren erfolgreichen akademischen Abschlüssen – der Überzeugung war und bin, das Abiturzeugnis sei erstens nach mehr als zehn Jahren überholt und zweitens die Aufforderung zur Einreichung ein sicheres Zeichen, mit Paragraphenreitern bzw. Formular- und Prozessgläubigen in Kontakt zu sein, für die ich in meinem ganzen Leben nicht mehr arbeiten möchte: Der I. nannte sie treffend einmal I-Tüpferl-Scheißer.

Daran hat sich seitdem nichts geändert. Mit dem Blick auf die Zeugnisse kann ich mir nicht vorstellen, was diese Vier in Religion heute über mich aussagt. Ich weiß nicht, was die jahrelange und sehr erfolgreiche Mitgliedschaft in der Video-AG unseres Gymnasiums mit meinem heutigen Leben zu tun hat: Ich besitze seit langem keinen Fernseher mehr. Viel treffender und teilweise heute noch passend kommen mir die prosaischen Bewertungen aus den ersten beiden Schuljahren vor, denn tatsächliche schaute ich lieber aus dem Fenster, als langweiligem Unterricht zu folgen. Das ist, warum ich in Cafés sitze, das ist, weshalb ich gern reise.

Anschreiben meiner Mutter

Mir geht es nicht so, dass ich der Schule hinterhertrauere. Ich kann mich an einige Tage in den letzten Schuljahren erinnern, an denen ich in der Pause oder im Unterricht saß und hoffte, dass einen der Lehrer im Unterricht nicht aufruft und vortragen lässt. Wenn man zu Beginn der Oberstufe konsequent aufhört, Hausaufgaben zu machen, ist die durchaus schöne Zeit in der Schule, in der man seine Freunde jeden Tag sieht und einige Nachmittage frei und Zeit für fragwürdige Dinge hat, tatsächlich durchsetzt von so etwas wie einem permanenten schlechten Gewissen. Warum ich damals nicht einfach wieder begann, Hausaufgaben zu machen, warum ich mich dem Gewissen drei Jahre lang aussetzte und mich um meine Abschlussnote zu keiner Zeit kümmerte, bleibt in weiten Teilen unverständlich. Was und ob es überhaupt mehr über mich aussagt als über die Schule, die ich besuchte, darüber mache ich mir keine Gedanken.

Und ehrlich: Es ist mir egal.

Kindheit - ein literarisches Bilderbuch

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Ich muss das jetzt noch einmal aufgreifen, weil es mich seit Tagen – ach was: Monaten! – wieder beschäftigt. In Italien hatte ich statt eines Stapels dicker Bücher meinen alten eBook-Reader dabei, keines der neueren Geräte, die WLAN oder sogar eine permanente Internetverbindung besitzen, und so bleibt das Aufspielen neuer Bücher auf das Gerät das Geheimnis der ganz und gar furchtbaren mitgelieferten Software, die bestenfalls leidlich funktioniert. Diese Software ist so beeindruckend schlecht, dass ich dieses Lesegerät stets nur einige Tage lang benutze, um es anschließend wieder ins Regal zwischen die echten Bücher zu stellen, wo es darauf wartet, in einen Urlaub mitgenommen oder aus sonstigen Gründen verwendet zu werden, die meistens mit Nostalgie und dem Satz »Ich habe doch irgendwo auch noch so einen« zu tun haben. Kurz: Ich besitze einen eBook-Reader, den ich nicht benutze.

Lüneburg, 1975

Seit Amazon den Kindle Paperwhite mit Beleuchtung auf den Markt gebracht hat, schaue ich unregelmäßig auf der Webseite vorbei, sitze seufzend davor und denke: »Ach«. Er wäre praktisch, erlaubt er doch den unmittelbaren Kauf neuer Bücher, egal wo ich mich befinde; die ohnehin überfüllten Regale würden nicht weiter aus den Nähten gehen, kein unnötiger Besuch des Buchladens wäre mehr nötig, weil sie das neue Buch noch immer nicht haben. Keine Bestellung und kein Abholen mehr, keine spießrutenlaufartige Fahrt mit dem Rad über den Marienplatz und keinen Applestore nebenan, in dem man ja nur mal eben… Schließlich: Keine vorwurfsvollen nächtlichen Ellbogenstöße mehr in meine Richtung die Frage in meine Seite prägend »muss das Licht wirklich immer noch leuchten«?

Juni 1931

Ich habe mir abgewöhnt, wöchentlich ins Antiquariat zu gehen. Zur Zeit schaue ich alle vierzehn Tage vorbei und trage auch nicht mehr die Mengen an Büchern hinaus, mit denen ich vor einem halben Jahr das Geschäft jeden Samstag verließ. Gebundene Bücher gibt es dort für drei Euro; für jede Datei, die ich auf das Lesegerät lade, bekäme ich also drei Bücher im Leineneinband mit originalem Schutzumschlag. Anschließend kann ich all jene Bücher verschenken, die ich unabsichtlich oder bewusst doppelt gekauft habe, ich kann mich an Widmungen auf den ersten Seiten freuen, die achtzig Jahre alt sind und von Freundschaften und Beziehungen zeugen. Ich kann meine Nase in Bücher stecken – sprichwörtlich – und mich am typischen Geruch alter Bücher erfreuen, denn wie Alte im Altenheim riechen, riechen Bücher in meiner Bibliothek: Eigen, nicht jeder erträgt es.

München, 1931

Ich würde gern – wenn ich einmal alt bin – die Widmungen in zu verschenkenden Büchern beginnen mit meinem geschwungenen F, das ich so sehr schätze. Die Widmungen möchte ich auf die erste Seite bringen, mit dem dann alten Füllfederhalter, beinahe so alt wie ich selbst. Sie müssen nicht lang sein, vielleicht bloß zwei Worte und sie sollen zeigen, was du für mich bist.

Dreitortentag

Der Besuch hatte sich bereits Stunden vorher verabschiedet, als wir aus dem Haus traten auf die Straße in eine Menge von Menschen. Marathonläufer keuchten vorbei, doch fanden wir nicht heraus, ob wir in das Mittelfeld oder die Nachhut gerieten. Wir ließen uns ein Stück treiben in Richtung der Universität, einer Gruppe von Trommlern entgegen, die man an allen Marathonstrecken findet. Sie standen zu zehnt auf jener Kreuzung, die Museen in verschiedene Quadranten einteilt und sie schlugen einen Rhythmus, dem sich wenige Zuschauer entziehen konnten. Auch wir standen ein paar Sekunden, ließen uns dann fortreißen, zwischen uns schleppten sich die Läufer hindurch.

Eigentlich ein Kuchen

Wenn man das Hauptgebäude der Universität betritt, einen kleinen Lichthof durchmisst und im darauf folgenden Gebäude links in einem Gang folgt, an dessen Wänden Schaukästen die Anschläge des Prüfungsamts präsentieren, gelangt man in ein helles und weitläufiges Treppenhaus, in dem sich breite Stufen emporschrauben in den fünften Stock, auf das Dach. Es gibt einen Fahrstuhl, an dessen Warteschlange wir uns vorbeidrückten, der bis in den vierten Stock fährt, doch für die letzte, etwas abseits liegende Treppe gibt es keine Alternative. Sie führt in einen kleinen, karg eingerichteten Raum: In das Café dieses Forums, das zum Fachbereich Architektur gehört und seinen Besuchern die Epoche der Klassischen Moderne präsentiert. Junge Menschen stehen in Mäandern vor der Kaffeeausgabe, draußen auf der Dachterrasse stehen lose Stühle, und jene, die nicht in Gruppen sitzen, richten sie aus in Richtung der Alpen. Klassische Moderne: Flugzeughangar im Winter, ein leeres Speicherkabinett mit Blick auf die Berge.

Torte und Tee

Der Concierge schaut uns freundlich entgegen und weist uns den Weg: Links liegen die Aufzüge und im siebenten Stock sei die Terrasse und das Café, einen Stock überhalb des Schwimmbeckens auf dem Dach dieses Hotels. Gäste in Handtüchern oder Bademänteln bestellen sich eine Erfrischung mit Kokosraspeln, wir sitzen neben zwei jungen Männern, die einen Sekt im Eiskübel bestellen, anstoßen und beim Sprechen nicht aufeinander achten, den jeweils anderen geradezu missachtend über ihn hinwegsehen – ich beobachte sie lange mit ihrer übertriebenen Mimik, die sich nicht anblicken beim Reden, als kennten sie sich seit einem halben Jahrhundert, als führten sie eine eingerostete Ehe, in der alles Gewohnheit ist, eingespielt, alles eingeschliffen, geprägt. Es kommen Gruppen von Frauen heraus, die sich laut unterhalten, im hinteren Teil der Terrasse beschwert sich ein in Handtücher gekleideter Hotelgast beim stoisch mechanisch dreinschauenden Kellner, der pflichtbewusst einen Teller in die Küche zurückträgt. Als wir gehen, nehmen zwei ältere Herren unseren Tisch, ich verabschiede mich, beide schauen grußlos an uns zweien vorbei, als gäbe es keinen von uns.

Gedeck

Vivaldi, das wunderschöne Mädchen und ich sitzen am Tisch, wir haben das beste Geschirr aufgedeckt und in der Bäckerei eine Straße entfernt eine Torte gekauft. Unten sammeln sie die Pylone ein, die Nachhut ist eingebogen auf die letzten Kilometer des Laufs, während hinter ihnen eine Gruppe älterer Männer bereits die Absperrgitter auf den LKW heben. Unser Tee knistert in der Kanne, wenn wir sie zurückstellen auf das Stövchen, weil sich durch die Hitze am Boden kleine Blasen bilden. Das letzte Stück Torte mit Blick auf den Asphalt, auf dem sich bereits ungeduldige Sportwagenpiloten den desinteressierten Menschen präsentieren, die noch an der Rändern der Strecke verweilen. Sie sind auf dem Weg auf die nächste Dachterrasse, Sekt oder Champagner zu trinken, in eine Umgebung, die hallt und die Menschen, die einen Kindle besitzen, wahrscheinlich als schlicht und modern euphemisieren.

Bleekenwarf

Seit zwei Tagen ist die S. zu Besuch. Die S. kenne ich seit mehreren Jahren, ich habe früher mit ihr zusammengelebt. Und immer wenn ich an die S. denke, erinnere ich eine Situation, die kurz nachdem wir uns kennenlernten passierte: Sie saß mir gegenüber, während die alte Vierzigwattbirne unter dem damals schon verstaubten Lampenschirm mühevoll versuchte, das Zimmer zu beleuchten, in dem unsere WG häufig zusammen aß und das meinem Zimmer gegenüberlag. An den Fachwerkbalken hatte vor Jahren jemand eine Lichterkette angebracht und an der Decke des Zimmers erinnerten noch einige handgemalte Bilder von Fischen und Seerosenblättern an eine WG-Party, die lange stattfand bevor ich einzog in dieses Haus und die irgendein Unterwasser-Motto besaß.

Habt einen schönen Tag!

In einer dunklen Ecke hing Brunhilde, die Pflanze, von der niemand mehr wusste, wie und wann sie zu ihrem Namen gekommen war. Überhaupt hatten viele Dinge Namen, wie Frau Hoffmann, die Katze, oder der Hefeteig in der Küche, der Hermann hieß, und der zwei Mal jede Woche geteilt und aus dessen kleinerer Hälfte ein Kuchen gebacken wurde. In diesem Raum unter dem Dach saßen wir also, als die S. mich plötzlich fragte, wann ich geboren sei. Ich nannte ihr das Datum, doch sie fiel mir noch im Monatsnamen ins Wort und sagte »Nein, ich meine die Uhrzeit«.

Rom

Die S. ist also hier und mit ihr eine Menge Erinnerungen von damals, als wir uns das Stockwerk in dem alten Haus teilten, das Bad und viele Abende mit T. und der J. in dem WG-Zimmer. Die S., die irgendwann einmal in meinem Bett schlief, als ich unterwegs war. Weil ich vergessen hatte, den Wecker auszuschalten, schrieb sie mir am nächsten Morgen eine SMS, sie hätte kurzerhand mein halbes Zimmer entkabelt. Aber nun, endlich, sei das Ding aus.

Schuld und Sühne

Mit der S. sind auch all die Vorsätze wieder da, irgendwann demnächst wieder die kleine Stadt zu besuchen, den Kontakt zu T. und der J. zu intensivieren – aufzuwecken wäre des bessere Wort – ja, generell an der Idee weiterzuarbeiten, die J. und den T. wieder in einem Haus zusammenzupacken, vorzugsweise hier unten an einem See und wieder zusammen zu leben, in einer Lebensgemeinschaft mit den Menschen, die mir so viel bedeuten, von denen ich vieles erfuhr.

Nonne

Gestern Abend saßen wir drüben im Zimmer, in dem sie schläft, an der Fensterfront und sprachen über Lebensformen und Wahrnehmung. Als ich in die Grimm-WG einzog – vor fünfeinhalb Jahren – arbeitete ich bereits seit ein paar Monaten in einer Arbeitsgruppe an der dortigen Universität. Ein Kollege stellte mir damals die Frage, wann ich denn nun endlich umziehen würde in eine richtige Wohnung, die Zeit der WGs sei doch nun, wo ich richtiges – er sagte: richtiges! – Geld verdiene, endlich vorbei. Doch das kam mir damals schon komisch vor, denn auch wenn ich mit dem wunderschönen Mädchen hier alleine wohne, träumen wir beide von einem Hof, auf dem auch andere leben. Manchmal sprechen wir darüber, wenn wir auf das Museum schauen, oft wenn es regnet, und stimmen überein, dass das doch was wäre: Ein Hof am Ufer eines der Seen, und die J. und den T. bei sich zu wissen. Sie lachen, immer wenn ich davon erzähle.

Engel

Doch, liebe J., lieber T., ich kann warten. Ich habe noch Zeit.

Italienische Reise

Der Plan sah vor, dass wir morgens, geweckt von Croissants und dem Geruch von frischem Cappuccino im Bett liegend frühstücken, während wir den blauen Himmel beobachten, der sich über dem unseren Appartement gegenüberliegenden Haus abzeichnet, dessen Fassade aus dem frühen Achtzehnten Jahrhundert stammt. Das Zimmer ist bereits angenehm warm: Wir schliefen die Nacht mit offenen Türen und der Morgen hat seine Wärme bereits in unser Zimmer gedrückt. So liegen wir dort, die dünne Überdecke zurückgeschlagen und im Schlafanzug, der Frühstückswagen neben dem Bett, verschlafen in den Dampf der beiden Cappuccini blinzelnd.

Der Himmel über Rom

Rom

Wie das mit hohen Erwartungen ist, findet man sie am Ende bestenfalls teilweise erfüllt. Der Nachteil einer überbordenden Phantasie, der Nachteil einer Einbildungsfähigkeit, die einem gestattet, sich in tristen Phasen, sogar aus dunklen Kellern hinzuträumen an Orte wie französische Cafés oder Wiener Kaffeehäuser, Jahrhunderte zurück oder Jahrhunderte in die Zukunft, ist, dass der Versuch, dem Bild gerecht zu werden, dass diese Phantasie zeichnet, während jeden Urlaubs, während jeden Ausflugs aussichtslos ist: Naturgemäß schafft eine Reise das nie; die Zufriedenheit muss man sich mit jeder erfüllten Teilerwartung zurückkämpfen, zurückgewinnen, um der Enttäuschung Herr zu werden, weil es (in diesem Fall) nicht so aussieht wie im Italien, das man sich bei der Lektüre von Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel erdacht hat, sondern eher wie Fruttero und Lucentinis Italien, das sie in Ein Hoch auf die Dummheit entwerfen: chaotisch, touristisch, verdreht und irgendwie funktionierend. Wie, das verstehen wir nicht.

Akademie

Statuen

Bar

Zu behaupten, dass diese Zugfahrt der Höhepunkt dieser Reise sei, ist übertrieben und außerdem falsch. Wir haben die Vatikanischen Museen besucht, sind hinaufgestiegen in die Kuppel des Petersdoms und hinab in eine Nekropole im Süden der Stadt. Wir saßen in Kirchen auf Holzbänken, die so alt waren wie mein Großvater, vielleicht sogar älter, wir saßen auf Plätzen, während um uns herum das Leben tobte, Straßenkünstler ihre Stücke darboten und Portraitmaler Karikaturen ihrer Modelle zeichneten. Wir waren schließlich in phantastischen Restaurants, im jüdischen Viertel, das ich liebgewann in den letzten Tagen, wir wanderten am Tiber und saßen im Garten einer Mafiosi-Villa, die umgebaut wurde zu einem Veranstaltungsort für Jazzkonzerte.

Petersplatz

Chair

Wir waren nicht am Meer, nicht im Umland der Stadt, in den kleinen Dörfern, die jene Hügel säumen, durch die wir jetzt mit dem Schnellzug Richtung Bologna rasen. Es ist Samstag Vormittag und die Dörfer liegen verschlafen. Die staubigen Hauptstraßen sind leer, das kleine Café in der Dorfmitte ist noch nicht geöffnet, die Plastikstühle stehen noch nicht an der Straße und keiner der Einheimischen sitzt dort und trinkt seinen Kaffee. Es ist eher, wie uns die Western in unserer Kindheit erklärten: Steppenläufer wehen über die verlassenen Straßen der verlassenen Dörfer und an irgendeiner Ecke eines verlassenen Hauses bricht sich der Wind.

Quo Vadis

Shoes

In Fat we Trust

Das wunderschöne Mädchen tippt mir auf die Brust und sagt »ich verstehe nicht, dass du ein T-Shirt trägst, auf dem eine Kuh in einen Burger verwandelt wird.« Ich hole etwas aus, erzähle von einem früheren Geburtstag – es muss acht Jahre her sein – und vom seltsamen Humor meiner Exfreundin und eines guten Freundes, der heute in Berlin lebt und den ich viel zu selten sehe. 

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Morgen früh werden wir in Rom in einem Straßencafé sitzen, frühstücken und uns überlegen, wie wir die folgenden Tage verbringen. Ich werde ein wenig arbeiten (schreiben), während wir in der Nähe des Petersdoms oder gegenüber des Kolosseums in der Sonne sitzen und werde darüber nachdenken, wohin es mich in den nächsten Monaten zieht. Zur Zeit arbeite ich drei Tage die Woche bei dem Sicherheitsinstitut, und die übrigen zwei Tage pro Woche mit anderen Dingen zu füllen fällt mir noch schwer: Zwar erzähle ich vielen, dass ich Zeit für andere Projekte habe und komme dadurch zu Gelegenheiten – ich halte Vorträge, gebe Feedback zu Texten und schreibe jetzt für ein Blog der F.A.Z. – aber ich verbringe die zwei freien Tage pro Woche nicht so häufig in Cafés wie ich das ursprünglich wollte. (Aber das Wetter in den letzten Woche war schlecht und die Alltagskiste hat keine Schutzbleche.)

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In Rom, in der Sonne, werde ich mir bei einem Cappuccino Gedanken über die nächsten Schritte machen; vielleicht brauche ich einfach nur Zeit. Ein Freund sagte gestern, ich solle mit mir geduldiger sein. »Allein in den vergangenen Wochen hast du Dinge getan, für die du vorher keine Zeit gehabt hast.« Zum Beispiel: Das neue Rennrad liegt nicht mehr in Einzelteilen vor mir. Doch ist das nichts, was in den nächsten Monaten die Lücke im Geldbeutel füllt, nichts womit ich mir Croissants, Torten und Tee kaufen kann.

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Aber: Ich bin – das merke ich selbst – einen Schritt weiter in jene Richtung gegangen, die mir (trotz allem) richtig erscheint: Das geographisch ungebundene Arbeiten (wie gesagt: Das Kolosseum in Rom!) und die Vielfalt durch verschiedene Jobs. Nun muss ich die Tage nur noch besser füllen und mich besinnen auf meine Stärken, die vielleicht gar nicht so häufig anzutreffen sind: Ein Informatiker, der Reden will und der Reden kann. Nur von diesem T-Shirt – und mit ihm jenem seltsamen Humor – darf niemand wissen. Dieses T-Shirt trage ich nur nachts.

Die Wahl

Den Wahlsonntag habe ich irgendwo zwischen München und Pfaffenhofen verbracht, möglichst weit weg vom Ausnahmezustand, der München zur Zeit heimsucht. Ich dachte mir, wenn mich schon ein Betrunkener überfährt, möchte ich wenigstens gut aussehen, zog also die neuen Schuhe mit den Weltmeisterstreifen an und putzte das Rad heraus, das mich neulich noch nach Italien trug. Die Schuhe waren Belohnung dafür.

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Nächste Woche fahre ich wieder in Italien, diesmal mit dem Nachtzug nach Rom. Weil sie auf dem Ausnahmezustand ein italienisches Wochenende haben, bekamen wir gerade noch das letzte freie Abteil. Die Dame am Schalter schaute mich bei der Buchung verständnisvoll an, sagte, sie würde auch gern in den Süden flüchten in Wochen wie diesen, denn viele Menschen am Bahnhof seinen in einem bedenklichen Zustand. Drei Jahre sei sie jetzt hier, drei Jahre hat sie sich herauswinden können aus dem Gruppenausflug ins Bierzelt. Ich weiß was sie meint.

Kuchen

Das Dachauer Hinterland, das mich durch den Sonntag begleitete, ist weder Italien noch hübsch. Langweilig würde es nicht treffen, doch ich habe mich zweimal beim Gedanken erwischt, wie es wohl ist, durch die Gegend zu fahren, in der ich aufgewachsen bin. Im Süden sind die Farben schöner, das Grün intensiver und jenseits des Alpenhauptkamms hat die Sonne ein anderes Licht. Aber es reicht, nach Süden die Stadt zu verlassen, der Norden hat mich nicht überzeugt.

Dachauer Hinterland

Am Wochenende habe ich außerdem das – noch immer habe ich keinen guten Namen – Alltagsfahrrad (das klingt viel zu unspektakulär!) umgebaut: Endlich ein Rennlenker, endlich Bremsschalthebel wie an den Rennrädern. Die Stunden im Keller sind beinahe so schön wie die Fahrt. Es ist: Mit den Händen zu schaffen, Probleme zu lösen. Der Vorgang dabei ähnelt sich stets: Man tritt zurück, kratzt sich am Kinn und dann fällt einem eines der anderen Fahrräder oder das alte Holzkisterl ein, das genau dieses Teil beherbergt, dass man gerade sucht. Man braucht nur ein bisschen Spaß am Probieren, etwas Zeit und eine ausreichende Anzahl anderer Räder.

Einer mit Zielen hat bloß noch nicht alles im Leben erreicht

Wissen sie, man erfährt über sich selbst ja ständig Neues. Natürlich war die Häufigkeit der Neuerkenntnisse in frühen Lebensjahren höher, aber auch mit vierunddreißig gelingt es der eigenen Mutter, in einigermaßen geeigneter Lautstärke ein Detail aus der eigenen Kindheit auszubreiten, so dass es auch für die vierköpfige Familie, die auf jenem Ausflugsdampfer neben uns saß, eine wahre Freude ist. Und zwar war das so.

Dampfschiff Ludwig Fessler

Was ich nicht wusste war, dass ich als Kind offenbar keinen Schnuller benutzte. Damit war ich in den Augen meiner Eltern wohl ein Hauptgewinn, wenn ich an Bekannte und Freunde und deren Sorgen denke, ihren Kindern den Schnuller – wie man so sagt – wieder abzugewöhnen. Diese Sorglosigkeit erkauften sich meine Eltern wiederum damit, dass ich sehr viel länger auf mein weißes Tuch bestand, als andere Kinder normalerweise ihre Schnuller verwenden. Dass ich mich daran noch erinnern kann, zeugt von einer gewissen Prägung und der Tatsache, dass dieses Tuch in meinem Leben eine nicht ganz kurze Rolle gespielt haben muss. Was ich nicht wusste und was meine Mutter in einem Anflug von Fremdwahrnehmungsverlust allen Mitreisenden erklärte: Dieses Tuch war eine halbe Windel.

Chiemsee

»Mutter …« versuchte ich noch ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen (und aus den Augenwinkeln sah ich die Familie nebenan lachen, auch wenn sie höflich ihre Gesichter auf die andere Seite drehten und demonstrativ auf die Berge am Seerand blickten). Sie reagierte prompt: »Und weißt du noch, warum du das Tuch nicht mehr haben wolltest?«. So hob sie an zur Geschichte, in der unser alter Hund und sein Appetit eine nicht unwesentliche Rolle spielte. »Es ist ja nicht so, dass du das Tuch nie wiedergesehen hast« sagt sie noch.

Herrenchiemsee

Herr Niels Fallenbeck, vierunddreißig Jahre alt und wohnhaft in München, hat in frühen Kindheitstagen an einer halben Windel gelutscht. Das war’s mit Karriere. (Danke, Mutter.)

Wir haben einen guten Ruf in schlechten Kreisen

Als sie mich gestern Abend anlachte und vorschlug, wir könnten doch um sechs Uhr aufstehen und gemeinsam Radfahren vor dem erwarteten Regen, drehte ich mich auf die andere Seite und schlief aus Protest ein. Als ich um acht Uhr aufwachte und zu den Rädern torkelte, benommen von einem wirklich seltsamen Traum, der um diese Uhrzeit im Blog nicht beschrieben werden darf, fiel mir diese lächerliche Kleinigkeit auf: Dieses Fahrrad trug noch keine Kette.

Wartehaus vor Nichts

Es war unklar, wann ich zurückkommen würde. Die Erfahrung hat gelehrt, mich nicht nach den ersten Ausfahrten auf neuen Rädern zu verabreden. Als ich letztes Jahr mit dem anderen Colnago aus Italien zurückkehrte, lernte ich in den darauffolgenden Wochen südländische Gelassenheit: Ich bin kilometerweit in Radschuhen gelaufen, Strecken, die sämtliche Verabredungen an diesen Tagen ruiniert haben; wegen des Pedals, das sich am Nordfriedhof aus der Kurbel drehte und das Gewinde mit ihm, auch wegen der Speiche, die in einem kleinen Dorf im Süden brach fernab jeder Bahn. Es ist wie mit einem alten italienischen Auto, sagt D., man muss solche Situationen als Gelegenheit sehen, in der sich das Leben ändern kann. Man darf nur eben nicht ankommen müssen.

Colnago C50

Ich habe in den letzten Tagen oft über den Rahmen gestrichen, ich habe ihn geputzt und gepflegt, ich habe neue Schläuche und alte Mäntel auf die Felgen gezogen, ich habe heute morgen eine fabrikneue Kette montiert. Und schließlich bin ich aufgebrochen zur einer kleinen und langsamen Runde, um ein Gefühl zu bekommen für den Rahmen, für die Geräusche, die dieses Rad macht. Die erste Fahrt ist immer etwas Besonderes, man fährt sie ohne Musik und vergleichsweise langsam, damit man das Surren des Rahmens gut hört und Geräusche, die einem zeigen, wenn etwas nicht stimmt. Mit jedem Kilometer wird die Liste der Dinge länger, um die man sich in den darauffolgenden Tagen dann kümmert. An diesem Rad gibt es verschiedene Teile, die ich im Winter ersetze: Der Lenker und der Vorbau sind schrecklich (doch die neuen Teile liegen schon hier), die Schaltbremshebel aus Aluminium sind nett, aber andere aus Carbon passen nun einmal besser. Der Umwerfer und das Schaltwerk, und schließlich diese Dreifachkurbel. Ich bitte sie: Dreifachkurbeln sind für alte Männer, die den Jaufenpass hinaufkeuchen wollen. 

FSA K-Wing

Ich habe erwartet, dass ich heute wieder schiebe. Natürlich gab es ein, zwei Details, die nicht optimal liefen, wir lernen uns schließlich gerade erst kennen. Aber ich kam an, wir kamen durch. Allein eines macht mir noch Sorgen: Die Farbgebung des Rahmens, diese orangenen Streifen. Ich besitze keine Schuhe, ich besitze keine passenden Handschuhe, die mit diesem Detail harmonieren.

– t: Thees Uhlmann – Kaffee & Wein

The Funerals

Heute vor einer Woche saß ich in einem Bus, der mit uns über die Passstraßen flog, die ich wenige Tage zuvor mit dem Rad in entgegengesetzter Richtung überquerte. Hinter mir auf der Bank saß ein Mädchen, das ihren neuen Freund in einem kleinen italienischen Dorf besuchte und nun zurück nach München fuhr, und hinter ihr standen vier Fahrräder. Man sucht sich seine Beschäftigung für die dunklen Tage, die vielleicht bereits angebrochen sind. 

Briefumschlag

Hier kommen Pakete an, die auf den Winter einstimmen: Die CD aus Italien mit den venezianischen Liedern, die natürlich ebenso gut in den Sommer passt, verstreut ihre angenehme Atmosphäre an Regentagen wie diesen. Neben mir knackt der Tee auf dem Stövchen, während von der anderen Raumseite ein Horn herüberweht. So kann ich stundenlang sitzen und schreiben, eine bleierne Müdigkeit legt sich langsam über mich, zwei Räume weiter wartet das dicke gebundene Buch, mich mitzunehmen an die Elbmündung in vergangene Zeiten: Siegfried Lenz‘ Deutschstunde.

Venezianische CD

So sitze ich dem leeren Ohrensessel vis-à-vis gegenüber auf den alten Cocktailstühlen und warte, bis sich der vertraute Schlüssel im Zylinder dreht. Denn an Regentagen wie diesen ist man nicht gerne allein, an Regentagen wie diesen tut der Atem eines anderen gut. Man könnte meinen, der Herbst kommt und mit ihm der Winter.

Und plötzlich, schlagartig, seufzt der italienische Rahmen laut auf, weil der Schlauch im Hinterrad birst. So bleibt man wach dieser Tage.

Hinter all diesen Fenstern …