Dogma

Während die Zeit rennt, bin ich hinter die Absperrung gestiegen und schaue ihr beim Laufen zu. Der Neustart ist schwer, das Wiedereinreihen ins Rennen, die Rückkehr auf die Tartanbahn, an deren Ende doch nicht wartet, was ich will oder brauche. Und am Rande des Weges steht einer, den ich von früher kenne.

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Es ist spannend, sein soziales Umfeld zu beobachten: Es sind nicht nur Freunde, mit denen man sich abends trifft, über Dinge redet und dabei ein Eis isst, es sind Menschen, deren Einstellung und Prioritäten einen selbst beeindruckend präzise beschreiben. Wenn du im Freundeskreis Menschen hast, die sich über die Topmodelle einer Automarke am Wochenende freuen, die sie ihrer firmengesponserten Platinumcard eines Autoverleihers verdanken, bist auch du solchen Statussymbolen nahe. In anderen Freundeskreisen hingegen bauen sie Fahrräder oder Gemüse an, gründen nachhaltige Firmen, steigen jeden Abend auf einen Berg und andere bauen vielleicht einen Diesel-Flugzeugmotor – dann ist dein Interesse an Statussymbolen vermutlich eher gering. Abgesehen natürlich von einem vernünftigen Rad, das die ersten wiederum nicht unterscheiden können von einem, das du als langweilig bezeichnest. »Vernünftig«, sagen sie, »ist vielleicht nicht das richtige Wort.«

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Die Menschen in der anderen Gruppen sind dabei durchaus keine schlechten. Es sind nur unterschiedliche Lebensentwürfe, die bedingen, dass man sich gegenseitig nicht versteht. Es gibt zwei Herangehensweisen: Die Einen sagen, man muss mit allen reden, sonst verliert man sich in seinen Kreisen, verliert den Bezug zur Realität. Die Anderen pochen auf ihre Lebenszeit, die sie verbringen wollen mit Menschen, die interessant sind, mit denen Möglichkeiten und Projekte entstehen, kurz: die sie weiter bringen in ihrer Richtung. Diese wollen ihre Zeit nicht verschwenden mit Schwätzern und Small Talk.

Ich erinnere mich gut an eine Nacht auf meinem Balkon – sie liegt nicht lange zurück: Mit mir saß einer dort, mit dem ich einst Abitur schrieb und er erzählte zwei Stunden, die mir wie zwei Tage vorkamen, von seinem Auto, für dessen Preis andere zwei Jahre lang wohnen und essen. In München. Im Zentrum.

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Das war wahrscheinlich der letzte gemeinsame Abend auf meinem Balkon. Ich werde ihn in fünf Jahren wieder treffen, auf der Zwanzig-Jahre-Feier des Schulabschlusses. Das reicht, um die Vorgänge im Land, in der Gesellschaft, genau zu verstehen.

Ich bin der Welt abhanden gekommen

Der Weg ist immer der Weg nach Hause. Ich bin zum ersten Mal während der Sommermonate in dieser Wohnung, aus der eine kleine verwinkelte Treppe in einen Dachstuhl führt, in dem die Sonne durch alte Fenster und verschobene Dachziegel helle Flecken auf den Holzboden brennt. Ich verlaufe mich, werde durch Rufe korrigiert und irre durch Räume bis ich den Weg ins Sonnenlicht finde; auf das Dach des Hauses, verborgen hinter einer Zinne und doch direkt über dem Marktplatz.

Dachboden

Ich erzähle ihr später, wie kompliziert es in Bayern ist, weil man an den Almen schwierig vorbeikommt ohne eine Dampfnudel oder Kaiserschmarren zu essen. Doch auch hier haben wir den Vormittag essend verbracht; morgens vor zehn, als sie noch schlafen, mache ich eine Kanne schwarzen Tee. Dies war der einzige Moment, in dem ich merke, nicht mehr hier zu wohnen, sogar: nie hier gewohnt zu haben. Ich finde mich leidlich zurecht und irgendwann doch die Büchse aus Blech mit dem Tee. Dazu gibt es Pralinen und ein Stück Schokolade zartbitter.

Frühstück

Obwohl ich niemandem erzählt habe, wo ich die nächsten Tage verbringe, finden mich Jene, die suchen, an den typischen Orten, an die es mich zieht. Sie stoßen dazu, wir begrüßen uns kurz und sie bleiben vielleicht auf einen Kaffee. Das funktioniert noch so, wie die Gesellschaft meiner Jugend noch vor dem Internet funktionierte: Man muss sich nicht explizit verabreden, man geht einfach bei Freunden vorbei. Kein Whatsapp, kein Threema, keine eMail und kein Telefonat. Wer mich treffen will, trifft mich. Wer nicht, trifft mich nicht (oder bestenfalls auf der Straße). Und wer mich kennt, weiß, wo ich auf ihn warte.

Café am Grün/Roter Stern

Das Bild im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Ich habe den heutigen Feiertag damit verbracht, Betriebssysteme von Mobiltelefonen zu aktualisieren. Nun kann man einwenden, dass dies ja nicht nötig gewesen sei und die Telefone früher oder später wieder in der Schublade verschwinden, man also die Zeit hätte durchaus sinnvoll verwenden können, doch den Kern der Sache trifft das nur halb. Wir, die nicht aufpassten, sind zu einem Volk von Smartphonebenutzern geworden, die nützliche Funktionalität mitbringen. Und ebenso natürlich verändert sich unser Verhalten. Waggons voller guter Beispiele bieten sich morgens in der U-Bahn oder im Bus. Als Dorfkind bin ich in den den Achtziger Jahren keine U-Bahn gefahren, als ich Ende der Neunziger Jahre Abitur gemacht hatte, besaß einer von einhundert ein Telefon: Ein großes graues Gerät mit grün-schwarzem Bildschirm, der nur Zahlen darstellen konnte.

Nokia 6310i

Von Zeit zu Zeit hole ich ein altes Telefon aus dem Schrank, bei dem man als Benutzer wenig selbst machen konnte: Keine Bilder, kein Social Media, Telefonieren und Nachrichten schreiben ging schon. Um das Betriebssystem des Telefons zu aktualisieren, musste man zu einem der seltenen Händler gehen, die ein spezielles Gerät in der Werkstatt hatten und eine Stunde warten. Jedes Update kostete Geld und eigentlich waren die Updates damals ebenso wichtig wie heute. Nicht erst nach dem Sturz vorgegangene Woche habe ich darüber nachgedacht, ob es wirklich ein Gewinn ist, mit dem Telefon zu fotografieren und die Bilder unterwegs in die sozialen Netze zu laden. Was würde sich ändern, eine Kamera mitzunehmen um erwähnenswerte Situationen festzuhalten und diese Abends vom Laptop zu Hause in den Netzen verfügbar zu machen. Von einer deutlichen Verbesserung der Bildqualität abgesehen wirkte man der Inflation der Bilder entgegen.

Buch im Bildschirm

Aber: »Unterwegs auf Instagram schauen, Nachrichten und die RSS-Feeds lesen, Twitter, Facebook, hin und wieder ein Spiel!« Die Entgegnung hierauf ist einfach: Ich nutze die Möglichkeiten tatsächlich selten, seit ich aufgehört habe, U-Bahn zu fahren. In Zügen habe ich meinen Laptop dabei und mindestens ein gebundenes Buch. Ich bin nur unsicher, weil ich fürchte, etwas zu verpassen. Nicht im Hinblick auf Information, sondern auf das Wissen, wie das alles funktioniert. Ich habe nicht die Motivation, mich der Technik zu entwöhnen, ich möchte nur weniger zerstreut leben, getrieben von Information. Abschalten. Lesen. Fotografieren. Am Blendenring drehen und dann, nach endlos erscheinender Zeit, den Auslöser zu drücken und nicht einen Lautstärkeknopf oder einen Bereich irgendwo auf dem Schirm.

Bilder

Metropol Garage

Hättest du mich heute Abend gefragt, wann der Schmerz begonnen hat, lautete meine Antwort vielleicht »irgendwann heute nachmittag« auf dem Weg zur Post oder in den kleinen Bioladen. Ich merkte, dass ich die Hand nicht mehr schmerzfrei schließen konnte. Nun ist es nicht so, dass ich mit derlei Malaisen öfter zu kämpfen habe oder meine linke Hand jemals Probleme bereitet hätte. Darum massierte ich auf dem Weg den Ring-, und Mittelfinger sowie die Handfläche, dehnte und hoffte, der Schmerz würde nachlassen in den nächsten Minuten. Die linke Hand, die ich brauche, um vorne die Kettenblätter zu wechseln. 

Ich habe keine Ahnung, wie lange ein Schock den Schmerz unterdrückt… drei Stunden vielleicht?

Chaos

Eben im Bad, als ich mir das T-Shirt ausziehe, entdecke ich blaue Flecken in meiner Leistengegend. Hättest du mich im richtigen Moment gefragt, ich hätte gesagt »ich weiß von nichts«, ich bin selber erstaunt. Die Hand auflegend, den stechenden Schmerz in der rechten Seite spürend sehe ich die Bilder vor mir, die ich über die Stunden verdrängte: Die grüne Ampel, die zweispurige Straße nahe der Boulangerie – meinem Ziel –, der Bremsreflex in der linken Hand, dosiert, dass sich das Hinterrad aufbäumt, ich mich aber nicht überschlage und doch das Rad nicht mehr richtig unter Kontrolle bekomme, den Lenker dafür in die Leistengegend und das Abfangen auf dem Asphalt – schmerzfrei in jenem Moment. Die haltenden Autos und Radler, mein Handzeichen, dass alles okay ist, das Sammeln, Aufsteigen, das Weiterfahren.

Der Zeitraum, in dem diese Bilder entstanden, scheint mir lang, wie der Zeitraum den ich brauchte, die blauen Flecken über dem rechten Hüftgelenk in Zusammenhang zu bringen mit den Geschehnissen von heute morgen. Sekunden später: mit den Schmerzen in der linken Hand. Das ist der Preis, den man zahlt, einhändig zu fahren, die Kamera in der Rechten um das Foto umgehend in die sozialen Netze zu laden, sofort, keine Minute verlieren. Allein, der Preis war nicht zu hoch:

Metropol Garage

Eldermann

Ich hatte mir vor einiger Zeit vorgenommen, Gedanken, die mir in den Sinn kommen, sofort in mein Notizbuch zu schreiben, weil sonst passiert, was gerade wieder passiert: Ich habe gestern Abend auf dem Weg ins Bett einige Fragmente gefunden, die ich in einem Text berücksichtigen wollte. Jetzt sitze ich in diesem Café, während draußen Paare mit Sekt anstoßen und bekomme keinen der Gedanken von gestern zu fassen.

Kaffeehaus

Ich erinnere mich an eine Zeit, in der es ihm besser ging. Stumme Zeugen dieser Tage sind vier Anzüge, die ich mich nicht traue zu tragen, weil die S. der Meinung ist, sie säßen nicht gut. Sie fragt mich immer lachend, wie ich mir so etwas habe andrehen lassen, ob ich denn keine Augen im Kopf hatte, damals, bevor wir uns trafen. Die vier Anzüge haben einen klassischen Schnitt und Muster, die an weiter entfernte Zeiten erinnern als an das Kaufdatum, dass einige Jahre zurückliegt.

Der Fluss

Als er einen blauen Anzug zwischen unzähligen anderen entdeckte, hob er an zu einer Geschichte, die begann mit »Damals in Hamburg«. Die Details erinnere ich nicht mehr, aber einige wenige Szenen seiner bildhaften Schilderung sind mir im Kopf geblieben über die Jahre. Wenn ich mich hineinversetze in diese Zeit, mich an seiner Statt in diesem Gebäude stehen sehe – so das anhand der wenigen Details, die er damals verriet, überhaupt möglich ist – dann sehe ich einen großen weitläufigen Raum, der dennoch still liegt: dicke Teppiche schlucken den Schall und am anderen Ende des Raums der Eingangstür gegenüber, durch die man dieses Büro betritt, steht ein alter Schreibtisch, wie ich ihn heute gern in der Wohnung hätte. Vielleicht sitzt hinter dem Schreibtisch ein älterer Herr, ergraut und wie man sich einen, der Verantwortung trägt, eben so vorstellt. Auf einer der beiden Längsseiten des Raumes gibt es mehrere bodentiefe Fenster, auf der anderen Seite, der rechten von der Tür aus gesehen, bedecken Gobelins die holzvertäfelten Wände. Zu dieser Stimmung, die einen ergreift, wenn man sich an diesem Ort wähnt, passt durchaus ein blauer Anzug mit goldenen Knöpfen, in dem man sich als junger Reeder fühlt.

Isarschwelle

Ich weiß nicht mehr, ob die drei anderen Anzüge eine vergleichbare Geschichte besitzen. Ich weiß nur, dass ich keinen der vier tragen werde in absehbarer Zeit. Vielleicht probiere ich sie morgen noch einmal an, heimlich wenn die S. nicht zu Hause ist, um ihren Blicken, ihrem Staunen zu entgehen. Ich verstehe die Unbekümmertheit, mit der sie vorschlägt, ich solle die Anzüge spenden. Sie war schließlich nie in einem Vorstandsbüro, sie ist nie versunken in den Teppichen dort und in der feierlichen Ruhe, in die ein blauer Anzug gut passt mit goldenen Knöpfen.

Etwas, das ich noch nicht schreiben kann

Hier liegt ein Artikel, den ich noch nicht posten kann. Das ist ein Dilemma, denn ich habe mir vorgenommen, öfter zu schreiben und dann schreibe ich Texte, die ich nicht vorzeigen kann. Vielleicht hätte ich vor einigen Jahren den Text unbedacht ins Internet gestellt, aber so etwas kann Folgen haben, wenn nicht sofort vielleicht in ein paar Jahren. Aus diesem Grund hörte Christopher Lauer vor Monaten bereits auf zu twittern. Es geht hier nicht um Piraten, es geht um eine Beobachtung, die auch mich umtreibt. Ich habe eines dieser modernen Smartphones mit unglaublich schlechtem Empfang und ziemlich guter Kamera; viele Fotos stammen dorther. Ich habe stets meinen Kalender dabei, twittere von unterwegs und wenn ich Leerlauf habe, lese ich meine RSS-Feeds oder Artikel, die ich lange schon lesen wollte. Zeitweise trage ich mein altes silbernes Telefon durch die Gegend, das man nur einmal pro Woche aufladen muss. Es ist ein innerer Kampf, den ich fechte, und noch gewinnt ihn das iPhone.

Ich, Du, ihr, wir!

Es ist Distraktion, die mich stört. Früher ging ich mit einem Stapel Zeitungen ins Café, in dieser Zeit lernte ich das wunderschöne Mädchen kennen. Heute trage ich den Laptop herum, vielleicht das Tablet, sicher das Smartphone. Das letzte Mal bewusst auf Papier geschrieben (Artikel, die hinterher hier gelandet sind) habe ich vor vielen Jahren am See, als ich noch nicht in dieser Gegend gelebt habe. Mich erfasst mittlerweile eine Unruhe, wenn nichts passiert. Das ist die Entwicklung, die mir nicht gefällt. Ich glaube, auf Twitter etwas zu verpassen (und ich weiß: ich verpasse nichts), die gleichgeschalteten Medien lese ich in den letzten Jahren deutlich weniger als zuvor, einen Fernseher besitze ich seit Jahren nicht mehr. Mein Friseur erzählt, seit er überhaupt keine Nachrichten mehr konsumiert, geht es ihm besser und er hat mehr Zeit. Geändert hat sich für ihn naturgemäß nichts. 

Die Kladde

Der erste Eintrag ist vom dritten Dezember 2007 und ist ein Gedicht. Er beginnt auf der dritten Seite des kleinen Büchleins, das ich mir wenige Tage zuvor gekauft hatte, um meine Gedanken zu ordnen. Die beiden davor liegenden Seiten enthalten allerhand: eine Packlist, Telefonnummern, einige Zeichnungen und einen Reiseplan mit Stationen aus dem Dezember, in dem ich das wunderschöne Mädchen das erste mal am Chiemsee getroffen habe.

Libros

Den See kenne ich – wenngleich er doch weit entfernt gewesen ist – zu diesem Zeitpunkt schon länger. Damals gab es, wenn man den Hauptbahnhof aus dem Schaltergebäude verließ, linker Hand auf der gegenüberliegenden Straßenseide eine kleines Fotogeschäft, in dem es Fotografenbedarf zu kaufen gab und die Möglichkeit, Portraitaufnahmen zu machen. Durchquerte man diesen ersten Raum, kam man in einen größeren mit Regalen voller Schokolade und Kaffeehausutensilien. Es gab, wenn ich mich recht entsinne, drei kleine Tische und eine alte, beeindruckend große und laute Siebträgermaschine. Im Sommer kamen noch fünf Tische im Garten des Hauses dazu an denen man zwischen spielenden Kindern auf den nächsten Zug warten oder ankommen konnte – je nachdem, ob man den See gerade verließ oder erreichte. Es war natürlich (besonders im Winter und bei schlechtem Wetter) ein Glücksspiel, ob man einen freien Platz bekam; in meiner Erinnerung gibt es jedoch keine Situation, in der ich unverrichteter Dinge gehen musste – vielleicht, weil ich damals überwiegend allein reiste und man allein stets einen Raum finden kann.

Notizbuch

Blättert man weiter, reihen sich Texte an Texte, selten Gedichte, unterbrochen von losen Aufzeichnungen, die oft auf Reisen entstanden, spanischen Busfahrplänen und norwegischen Zugverbindungen, Adressen von Hostels und Telefonnummern mit ausländischer Vorwahl. Manchmal finden sich Gedankenfetzen auf einer sonst leeren Seite und die Handschrift von guten und vermissten Freunden, die ich oft seit Jahren nicht sah. Immer wieder fallen fehlende Seiten ins Auge wegen der Risskanten oder einer gelockerten Bindung, an der ich die Blätter heraustrennte, die ich oftmals als Brief versendet habe. Und doch wurde das Buch über die Jahre nicht dünner; heute ist es umfangreich wie niemals zuvor, die Bindung nur und mühsam gehalten von zwei Streifen Gewebeklebeband.

Notizbuch und Karten

Auf der letzten Seite der Kladde gibt es eine Falttasche, die mittlerweile gefüllt ist mit den Fundstücken verschiedener Reisen. Hier finden sich Briefmarken und -umschläge, Fahrkarten aus verschiedenen Städten, die dort vergessen liegen und unzählige Postkarten, die ich stets sammelte mit dem Vorsatz sie zu vesenden und die mir dann stets zu schade vorkamen (oder – das häufiger – die ich einfach vergaß). Hier schließt sich der Kreis: auf manchen der Karten steht in einer vertrauten Handschrift eine Adresse, die sich auch auf den ersten zwei Seiten des Notizbuches findet. Damals, vor fast fünfeinhalb Jahren, eine Adresse, die mir eine Schlafstatt versprach. Heute, als Absenderadresse auf mehreren Karten, mich zu erinnern, wo ich das wunderschöne Mädchen stets finde.

One Hit Single

Wir sitzen oft drüben – von meinem Platz im Ohrensessel aus gesehen – am Fenster mit Blick auf die Birken, denen unser Haus Platz ließ in den fünfziger Jahren, als der Architekt sich gegen den Wahnsinn entschied, dem man in den Prachtstraßen ständig begegnet. Dort also, nicht nur zurückversetzt sondern auch oberhalb der Schlange, die während des gesamten Sommers auf dem Gehweg mäandert, ein Eis bei Ballabeni zu essen, von dem man sich sogar in Architekturvorlesungen in Hessen erzählt. Während sie unten eine halbe Stunde anstehen für – zugegebenermaßen – hervorragendes Eis, lehnt man sich oben zurück und wartet, bis die Schlange auf ein erholsames Maß geschrumpft ist, steht auf und kühlt sich im steinernen Treppenhaus noch einmal ab, um wenig später das Eis zurück in der Wohnung (am Fenster!) an jenem Fenster zu genießen.

Seilbahn zum Gipfel

Gefühlt sind wir von dieser Zeit Monate entfernt, noch am Samstag kletterten wir vereiste Passagen auf dem Gipfel des Wallbergs. Doch Ballabeni hat seitdem seinen Laden geöffnet, der Freund bereitet seine Abreise vor nach Italien, das wunderschöne Mädchen kämpft langsam mit den Blüten der Birken und immer öfter bricht die Sonne durch die tief hängenden Wolken.

Gipfelkirche Wallberg

Es wird langsam Zeit, ich sitze schon drüben am Fenster, nur der Rest fällt mir schwer. Es sind die Wochen, zwischen denen ich lebe; ich probiere ein bisschen was aus (doch eher in mir als äußerlich sichtbar) und finde kein befriedigendes Ergebnis, ich finde nur Gründe. Ich habe eine Ahnung, und während ich anderen sage, sie müssten gehen, bleibe ich (vielleicht zu lange) stehen:

Go into the Knautschzone.

(Hub Munich, via workartists.de)

Where I found you

Man kann mehrere einhundert Euro ausgeben an einem Wochenende für Bücher. Das ist – sagen die einen – eine der Launen, die wir von Dir kennen, das ist – sage ich – vielleicht der letzte Versuch. Ich habe letztens den Satz gelesen von dem, der sagte, er lässt sich nicht nieder für ein langweiliges Leben; und ich bin mir nicht sicher, warum ich diese Worte mit mir herumtrage seit Tagen, rekapituliere im Kopf. 

Wo ist unten, wo oben?

Das ist kein Ying und kein Yang, das ist nicht Feng Shui. Das ist nicht der Kampf zwischen Bibliomanie und dem Bedürfnis, kaum zu besitzen. Die Verzweiflung, die sich Bahn bricht, wenn ich jemanden langsam tippen sehe oder die Maus benutzen, entspringt nicht dem Effizienzwahn, unter dem wer kollabiert. Im Wesentlichen alles okay, wie es ist, habe ich heute herausgefunden (in einer klinischen Studie). Es ist alles okay, mir bleiben noch beinahe sechzig Jahre, nicht zu verzweifeln, vielleicht sogar ein paar Jahre mehr.

Wie wir leben wollen

Es gilt das gesprochene Wort; ein Masterplan der zwischen uns zirkuliert und den Namen trägt eines Sees in der Nähe mit einer Jahreszahl hintenan. Eine – wie man heute sagt – Zielvereinbarung zwischen Gleichgesinnten angesichts einer Reihe Projekte, die wir beide nicht kennen. Ein Masterplan, der zwischen uns ruht. Im Moment, sagst Du, ist doch alles okay. Ein Echo der Worte eines Freundes im Kopf und die Unsicherheit hinter der Frage »machen wir uns was vor?« Nimm Dir eine Stunde mit wem, den ich kenne: eine klinische Studie. Wir sehen uns am See, dort kannst Du mich finden, wenn Du mich suchst.

Sachschaden und Dachschaden

Sachschaden und Dachschaden hießen zwei Brüder, die auf unsere Schule gingen. Sie hießen naturgemäß anders, doch Sachschaden und Dachschaden war uns stets ein Begriff, wenngleich ich nicht mit ihnen in einer Klassenstufe gewesen bin. Ich habe ihren wirklichen Namen vergessen; nicht aus Bosheit, sondern weil ich wirkliche Namen oftmals vergesse und mich nur lückenhaft an meine Schulzeit erinnere. Ist das ein Fluch oder Segen, nicht mehr zu wissen, mit wem man auf der Grundschule war? Das wunderschöne Mädchen hingegen bekommt sogar Einladungen für Grundschulklassentreffen und kann sich an alle Gesichter erinnern.

Schlund

Es ist nun nicht so, dass ich meine Freunde vergesse. Allerdings sagen mir manche Namen nichts mehr, doch wenigstens für den Abiturjahrgang habe ich ein Buch zur Hand, in dem ich neben dem Namen ein Foto finde, manchmal sagt mir tatsächlich das Foto auch nichts. Auf dem Abiturtreffen vor fünf Jahren war ich zwar nicht überrascht, wer dort mit mir im Gastraum saß, doch kam die Erinnerung an einige Gesichter erst im Gespräch zurück, das Nichts wich einer leisen Ahnung, wer derjenige war, mit dem man sich unterhielt. Das jedoch passierte selten genug: noch immer blieben die Gruppen für sich, sie kennen sich, vermischen sich nicht. Beiderseitiges Desinteresse zumeist, Freundschaft und Respekt hat sich nicht verändert über die Zeit.

Vereinsheim

Dieses Jahr (wie alle fünf Jahre) passiert wieder ein Treffen des Jahrgangs und ich plane ebenfalls die Reise zurück. Teils aus voyeuristischen Gründen, teils aus Gründen, alte Freunde zu treffen (oder besser: Diejenigen, die mir damals Freund waren). Es ist ein seltener Abend, manche Lehrer, sogar mancher Schulkamerad ist bereits tot. Ich bin nicht nostalgisch – sogar einigermaßen gut im Abbruch älterer Brücken – ich bin interessiert, wer dort sitzen wird. Ich werde mich bestmöglich durch den Abend spülen lassen, das hat bisher stets funktioniert. Mein kleines Erlebnis, auf der Suche nach dem Leben der Anderen.
Wie mich auch brennend interessieren würde, was Sachschaden und Dachschaden so machen. Wüsste ich nur ihre Namen.