Besser, von Sachen als von Menschen abzuhängen

Ich warf allerlei Gedanken im Kopf herum,
bis endlich folgender obenhin zu liegen kam.

– Georg Christoph Lichtenberg

Schließe ich die Augen und denke an Italien spielt Sepia eine Rolle, wie trockenes Gras im Sommer nach einer langen Regenpause. Ich weiß also, wenngleich ich den Passo della Mendola noch nicht mit dem Rad hinaufgekeucht bin, wie es sich anfühlen wird, denn Staub, Hitze und Trockenheit haben sich in meinem Kopf durchaus manifestiert; wie es sich anfühlen wird, wenn ich diesen Punkt hinter mir habe (auf dem Weg aus Italien oder dorthin).

Sepiafarbener Sommer

Dem gegenüber, vor meinem inneren Auge, scheint mir diese Gegend hier in sattem Grün, das sich abwechselt mit Rapsfeldern, an denen man auf leeren geteerten Wegen vorbeifliegt. Selbst wenn die Sonne ungleich heißer brennt, sehne ich mich nach dem ockerfarbenen Sommer im Süden, nach der trockenen Luft und den vorbeiknatternden alten Alfa Romeos.

So lange sitze ich in einem Café mit einem Buch, dem Laptop und einem italienischen Cappuccino. Hier von einem Kompromiss zu sprechen, würde der Situation nicht gerecht. Es ist eher so, je mehr man liest, desto eher versteht man die Anspielungen des Einen auf das Buch eines Andern. So kommt, dass ich schmunzle zwischen den Tassen Kaffee und während ich dieses eine Buch lese, erinnere ich der anderen zwei. Und das ist mir ebenso lieb.

Die Bücher machen nicht gut oder schlecht,
nur besser oder schlechter.

– Jean Paul

Es ist einfach Rockmusik

Wenn man mich fragt, wer mein Leben prägte, zähle ich oft die Namen einiger Musikgruppen auf, die einzelne Phasen meiner Jugend – und wenn ich so schreibe, sehe ich mich noch immer als Junger – begleitet haben.

Für mein Alter bin ich bin ganz schön altklug sagen sie
doch sie vergessen, ich mach schon immer Rockmusik 

Wenn man mich fragt, wer mein Leben prägte, erzähle ich selten von den Abenden damals vor dem Abitur im Wendehammer und vergesse stets zu erwähnen, dass es sich dabei nicht um eine Diskothek, sondern um einen wirklichen LKW-Wendeplatz in unmittelbarer Nähe zur Autobahn handelt, die Dortmund und Frankfurt verbindet. Für einige Jahre war dieser Platz Teil des Lebens meiner Freunde und mir, an dem wir standen, grillten und aßen, manchmal mit dem Rücken im Gras lagen – die Autos im Halbkreis um uns geparkt – und die Sterne bestaunten. Das war der Ort, an dem manche mir sagten, sie würden jetzt Väter und der Ort, an dem ich den ersten großen Blechschaden meiner Fahrerkarriere erlebte.

Freunde

Streicht mein inneres Auge über den Halbkreis der Freunde von damals, stelle ich fest, dass sie alle noch leben. Natürlich gibt es einige, die gingen, Freunde, die später in Geschichten auftauchen werden als unerreichte Rebellen, die Erzähler selbst niemals waren und als Rechtfertigung vor den eigenen Kindern, selbst anders zu sein (gesittet!), mit einem Familien-Van vor der Tür und nicht mit einem Zweisitzer ohne Kofferraum und undichtem Verdeck. Natürlich gibt es die Toten, doch waren wir nie zusammen an diesem Ort.

Wenn man mich fragt, wer mein Leben prägte, so muss ich erzählen, es waren in Teilen die Freunde von damals. Das hörte auf nach dem Abitur, als man sich trennte, Journalismus und dergleichen zu studierten in unterschiedlichen Teilen der Welt. Es traten andere in mein Leben, doch vergessen habe ich die Abende von damals nicht, auch wenn ich einzelne Gespräche naturgemäß nicht mehr erinnere. Ab und zu findet eine eMail den Weg in mein Postfach, fünfzehn Jahre danach.

Dies ist der Versuch einer offenen Antwort.

— t: Tocotronic – Es ist einfach Rockmusik

Wenn man hier ruhig ist, kann man Italien schon riechen

Gestern Abend auf der Terrasse, als die Sonne hinter den Bergen verschwand, kam man wieder in das alte Gespräch, auf die Themen, die man in unserem Alter noch regelmäßig zerkaut, und man kam zu dem Schluss, dass alles richtig ist und dass man nicht tauschen möchte mit andern. Vielleicht ging der letzte Halbsatz unter auf dem Weg zum Weinregal, in dem die Flaschen des Roten aus Südtirol lagern.

Der See

Auch wenn man durchaus gut lebt in der Münchner Innenstadt kommen doch jedes Mal auf den Seewegen hier Zweifel, ob nicht ein Grundstück (mit Steg) langsam Zeit würde, eine Wohnung am See. Gestern war ich anfälliger als sonst für solche Gedanken, brauchte ich mit dem Rad doch mindestens eine halbe Stunde an den Stadtrand, eine halbe Stunde Wegstrecke mit Ampeln, Radtouristen und unaufmerksamen Fußgängern und Automobilisten.

Motion

Dass die Europameisterschaft im Fußball an diesem Wochenende beginnt, beantwortet man mit einem hoffnungsvollen Blick auf die Wettervorhersage. Fußballspiele bedeuten gähnende Leere auf Straßen. Während einer Ausfahrt auf der Dachauer Straße zu Zeiten eines Nationalmannschaftsspiels verblassen die Themen von jener Terrasse.

Jedenfalls eine Weile.
Jedenfalls bis zum Kauf einer Wohnung am See.

Samstag. Eine Romanze.

Gestern war ein guter Tag. 

Aus unterschiedlichen Gründen war ich bereits eine Weile nicht mehr im Antiquariat, das seit jeher Teil meiner samstäglichen Runde ist, die auf dem kleinen Markt hinter dem Museum beginnt. Was Apfel- und Käsesorten angeht, bin ich noch kein versierter Gesprächspartner, aber man kommt dann eben über andere Dinge ins Reden und trägt Saftflaschen und Gemüsesorten nach Haus‘, die einen eine Woche später wieder auf den Marktplatz treiben (nicht nur des Flaschenpfands wegen).

Mit dem Besuch des Antiquariats beschließe ich die obligatorische Runde, stöbere durch die Bücherregale und die wenigen Platten, die sie noch haben. Während ich den Großteil der Schallplatten bereits kenne – hier ist die Fluktuation erwartungsgemäß niedrig – drängen sich nach einer mehrwöchigen Pause zahlreiche interessante Bücher in den Regalen des Ladens, entsprechend schwer ist die Tasche an Tagen wie solchen.

Für's Wochenende

Bei all diesen Vorteilen der phantastischen Lage der Wohnung – die zahlreichen Museen vor der Tür, die Antiquariate und kleinen Geschäfte in den benachbarten Gassen und natürlich der Markt – wird mir mittlerweile der vielleicht einzige Nachteil bewusst: Die Abendrunde auf dem Rad ist selten kürzer als fünfzig Kilometer; einen Gutteil des Weges braucht man bis an den Stadtrand. Von dort ist es dann dafür nicht mehr weit bis zur Galopprennbahn oder einen der zahlreichen Seen, die man für sich alleine hat, wenn man spät genug ist.

Feringasee

Und gestern wartete zu Hause bereits der Besuch und ein kaltes Glas Wein, und es wartete frische Pasta mit frischen Tomaten vom Markt. (Ich finde Fotos von Speisen furchtbar langweilig, doch glauben Sie mir, Sie haben etwas verpasst.)

Eine Schubertiade

Ich trage in den Keller, was ich nicht unbedingt brauche, um Platz zu schaffen für Bücher, die ich zur Zeit nicht lese. Neben dem Bett zahlreiche Stapel: finnische Märchen, die ich nicht verstehe, Kafkas Strafkolonie, ein Briefwechsel über fast eintausend Seiten und mindestens eine Biographie.

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Ich komme zu wenig.

Nirgendwann

Ich erinnere noch den ersten Sommer nach meinem Umzug. Ich erinnere ihn aus verschiedenen Gründen, die unwichtig sind. Das Gefühl ist noch da, in der Sonne zu stehen, und diese kurze Spanne, in der man sich noch nicht heimisch fühlt, sondern wie im Urlaub erregt. Diese kurze Spanne vor der Gewohnheit.

Bitte MUT nicht als Sitz benutzen

Es war jener Sommer, in dem man Mut haben musste aus verschiedenen Gründen, die unwichtig sind. Wichtig ist, dass man ihn hatte. Ich stehe vor meinem zweiten Sommer in München, ein bisschen hat die Gewöhnung begonnen, was nur deswegen schade ist, die Gespanntheit nicht mehr zu haben, dieses unbekannte Gefühl des Erstaunens, nicht wissen, was mich erwartet.

Dottore Mata

Ich habe noch italienischen Staub an den Schuhen, die ich im vorvergangenen Monat in Mantua trug. Staub von den Wegen zwischen den Kirchen und Palästen, Staub von den Straßen, auf denen wir mit unseren alten italienischen Fahrrädern fuhren. Staub, den ich nicht abtragen möchte am grauen Teppich im Büro vor der Stadt.

Fahrrad, alt, italienisch

Der Weg zu der Kirche führte vorbei an einem riesigen Einkaufszentrum, an damals schon verdorrt aussehenden Gräsern, unter der Mittagssonne, die Ende April schon beinahe unangenehm brannte.

Wenige Tage danach fuhren wir zu einem Radgeschäft – er vorweg in seinem italienischen Cabrio, wir hinterher in unserem gemieteten Kleinwagen – an dem ich selbst mit einer sehr genauen Wegbeschreibung vorübergefahren wäre. Heute schüttle ich den Kopf über mein damaliges Zögern, dieses eine Rad zu kaufen im Hinterhof dieses Geschäfts.

Unser Gastgeber und der Besitzer des Ladens, den er mir auf englisch vorstellte – Radbegeisterte unter sich, und ich mittendrin mit der Ahnung, bestenfalls an der Oberfläche des Wissens zu kratzen, doch immerhin begeistert von alter italienischer Handwerkskunst, deren Namen ich weiß. So halte ich mich gegenwärtig über Wasser: Ich flicke alte Schläuche, um etwas mit den Händen zu machen, mich langsam heranzupirschen an die Normalität, ein Fahrrad komplett zu zerlegen. Ich habe gestern den Keller umgebaut, dass man eine Werkstatt hineinbekommt. Für den Fall, dass das Rad irgendwann da steht, dieses Rad, das ich suche.

Vivat academia.

Der Papst lebt herrlich in der Welt,
es fehlt ihm nie an Ablaßgeld;
er trinkt vom allerbesten Wein:
drum möcht ich auch der Papst wohl sein.

Doch nein, er ist ein armer Wicht,
ein holdes Mädchen küßt ihn nicht;
er schläft in seinem Bett allein:
ich möchte doch der Papst nicht sein.

Gaudeamus igiturEine Kollegin verabschiedet sich am Freitag mit den Worten »Dieses Wochenende ist bei uns Ostern« und ich bekomme in der Türzarge noch einen Crashkurs in Sachen orthodoxem Kalender und dazugehöriger Religion. Zur Ehre (ich sage fast: In stillem Gedenken) gab es heute morgen Frühstücksei.

Gestern war ich zum ersten Mal nach der Italienreise wieder im Antiquariat und kam zurück mit dem obligatorischen Stapel Bücher und einigen alten Schallplatten, unter anderem mit einer voller Studentenlieder, die nach dem zweiten Hören langsam ein generves Lächeln auf das Gesicht des wunderschönen Mädchens zaubern.

Manchmal stoße ich auf Verständnisloskeit. Verständnis erwarte ich nicht.

Ich wechsle die Platte.

Der Sultan lebt in Saus‘ und Braus,
er wohnt in einem großen Haus
voll wunderschönen Mägdelein:
drum möcht ich wohl der Sultan sein.

Doch nein, er ist ein armer Mann,
denn folgt er seinem Alkoran,
so trinkt er keinen Tropfen Wein:
ich möchte doch nicht Sultan sein.

Prof. Rudolf Grüttner und BarbaRossa: Papst und Sultan

We have a Strategic Plan – It’s called Doing Things.

Es scrollen Meldungen vorbei, wer welches Spiel wie lange spielt und dass ich eingeladen sei zu dieser und jener Anwendung. Seit ich Facebook nicht mehr verstehe, verliert es seinen Reiz. Es ist rhetorisch: Wie macht ihr das mit eurer Zeit?

Braun WatchWenn ich zu Hause bin, habe ich keine Lust mehr auf Akustik, auf sich ändernde Bilder und nicht mehr auf blinkende Anzeigen digitaler billiger Uhren. Doch den hehren Anspruch, nicht phlegmatisch zu sein. Ich sitze wahrscheinlich zu lange vor dem Computer, länger als manch einer verstehen kann. Viel länger, als andere für ein Spiel bei Facebook verwenden.

Felix Krull liegt angefangen neben dem Bett, doch meistens schreibe ich eMails, auf einem Stapel von mehreren Büchern und dennoch lese ich erst die ungelesenen RSS-Feeds des Tages. Regelmäßig beginne ich die angefangenen Bücher von vorn, weil ich mich an die ersten einhundert Seiten nicht mehr erinnern kann; und manchmal fühle ich mich anachronistisch und alt.

Der Begeisterung eines Early Adopters: Vier Kilo schwer und maximal zwanzig Pixel. Zum Ausgleich antiquarische, alt riechende Bücher mit persönlicher Widmung von vor fast einhundert Jahren. Ein paar eMails vielleicht – ich muss das wissen – aber doch bitte keine Bauernhofsimulation!

Collegium Aureum

Wie wir gestern ausgerechnet darauf zu sprechen kamen, weiß ich nicht mehr. Wir erzählten von unserer Art einzukaufen; er mit Auto, der sich ein Leben ohne nicht vorstellen mag, ich mit Rucksack, der seit Jahren alles in Rucksäcken oder Jutetaschen nach Hause trägt. Heute morgen beim Espresso lese ich drüben Don Alphonsos kurzen Text und finde mich wieder.

Jane Goodall - Ein Herz für SchimpansenGestern kamen wir darauf, dass er lieber alle drei Wochen einen Großeinkauf macht im – wie er sagt – besten Aldi der Stadt. Fragt man mich, wann ich das letzte mal in einem Aldi gewesen bin, ich weiß es tatsächlich nicht mehr. Es liegt länger als ein paar Jahre zurück; in der Nähe unserer jetzigen Wohnung gibt es keinen und auch die Vorstadtsupermärkte sind mir suspekt, deren Kassenschlangen unabhängig der Uhrzeit ständig zu lang und deren Auswahl uninteressant. Es ist nicht Bösartigkeit, es ist nur, dass ich mich woanders besser zurecht finde, dass man woanders freundlicher ist.

Also mäandre ich (häufig zusammen mit ihr) durch die Straßen des Viertels. Auf dem stets wechselnden Weg ist der Biomarkt feste Station, meist ebenso der Buchladen am Ende der Straße und der kleine Markt hinter dem international bekannten Museum. Wir kaufen höchstens, was wir tragen können; abhängig von der Reihenfolge der Läden zum Vorteil entweder von Büchern oder von Lebensmitteln. Was vir vergessen – besser: alles, was nicht mehr in den Rucksack passte – kaufen wir unter den Tagen, zwischendurch, etwa Obst und Gemüse, Brot sowieso und hin und wieder ein Buch.

Es ist nicht, dass ich ihn um seinen Einkauf beneide, der alle drei Wochen kostet, was wir wöchentlich zahlen. Bloß manchmal ist ein Auto mein Traum, ein Cabriolet für den Sommer, für die Fahrt in den Berge oder zum See. Es ist allerdings so: So lange ich Platz im Bücherregal habe, werde ich mir ein Auto nicht leisten.