public viewing

»Bist du schon wach?« – »Man kann dieses christliche Terror-Geläut dort draußen ja kaum überhören!«
Stünde ein Muezzin auf dem Dach meines Nachbarn – es wäre nicht weniger unangenehm aber dennoch gerecht.

Heute Abend kämpfen zwei Götzen und unten blöken Besoffene, schwenken ihre Wimpel im Takt und freuen sich, was man in der letzten Zeit gewonnen hat. Und hacken die Zähne ins Fleisch toter Tiere und sabbern und saufen und gröhlen und spei’n.

Sonntag morgen, die Bimmel klingelt zum Fußballgebet – dass heute abend nach Wien kein Stein mehr auf einem anderen steht!

public viewing [funeral] – öffentliche Aufbahrung {f}

Wie drin das ist

  • als sie ihm Wochen nach der Trennung die Lippen bei jedem »bis bald« entgegenstreckt
  • als er stichelnd grient »dreimal willst du doch immer geküsst werden; links, rechts, mitte« und dich dann dreimal ernsthaft küsst
  • das Donnern von Trolleys auf dem Kopfsteinpflaster draußen wie
    das Donnern von Kobelbechern auf dem Kopfsteinpflaster draußen

Café Mono

Ich habe mir Blasen gewartet, den Schaum vom Mund geschlagen, den du so magst und der nach Zucker schmeckt.
Ich sehe aus dem Fenster auf das andere Ufer, Radfahrer im Schlag der Musik treten, Familien in Tretboten stampfen, der untergegangenen Sonne entgegen
mit dem Gewissen, beim nächsten Regen
nicht zu ersaufen (der Tret-Arche wegen).

Nagel sagt – ich habe Nagel gesehen – all das sei überbewertet und nur wichtig, wie man sich fühlt zu viert im Auto, mit der Musik auf dem Weg zum nächsten Gig, alles erreichen zu können.

Die Nie-Ersaufenden kennen nicht dieses Gefühl, wickeln sich in ihre billigen Fälschungen von Burberry-Schals, treten ein wenig schneller und fester
der untergegangenen Sonne entgegen.

Im Taxi weinen

Die Stadt wird wieder voller. Wie in sie fließt das Leben in mich zurück, reißt mich mit sich wie alte Hasen die Neuankömmlinge, die Marburg erst verdauen, kennenlernen müssen. Wahrscheinlich werden einige – wenn nicht viele – diese Stadt verachten, hassen, Freundschaften und Beziehungen beginnen die zerbrechen, merken, dass man sich nie aus dem Weg gehen kann, zu Hause sitzen, trinken, rauchen, weil man das in den Cafés dieser Stadt nicht mehr darf.

Es ist, würde ich erklären, fragte man mich, Gewöhnung auf ganz kleiner Flamme. Es dauere lang, betonte ich, wie langsam fallen, ein weiches Prallen. Man muss nur mit dem Gesicht nach unten liegen, ins Gras schauen, sich nicht umdrehen so lang man hier liegt, lebt. Wie man nicht nach hinten schauen darf.

Einer sagt, das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.
Ein anderer, dass wer nach hinten schaut und vorne rennt, die nächste Wand zu spät erkennt.

Um die Ecke (gedacht)

Mit dem gebrochenen Deutsch, an das du dich über die letzten Jahre gewöhnt hast, fragt sie dich lächelnd, ob du nicht mehr gegenüber wohnen würdest. Du versuchst ebenso zu lächeln, während du wahrheitsgemäß antwortest, hoffend, dass sie nicht weiter bohrt.
Natürlich hast du – wie immer – Pech.

Our Churches

Du erzählst also, es sei wegen des masochistischen Nachbarn, den du nachts manchmal weinen gehört hättest. Und die Stimme jedes Mädchens, das du irgendwann kennengelernt hast, tauchte irgendwann nebenan auf.
Du erzählst also, dass du wegen der unerträglichen Nachbarschaft das Weite gesucht hast, flüchtend vor der dich stets einholenden Vergangenheit, wegen alter Erinnerungen, die dich schließlich nachts wach liegen ließen; gleich so, wie es vielen unserer Großväter ging.
Du erzählst also, alles wegen eines Mädchens.

Sie gibt das Wechselgeld und den Kaffee heraus,
wie früher.
Wie immer.

— Bild: Found Magazine

Wenn einem die richtigen Worte fehlen, ist das noch lange kein Grund, die falschen zu benutzen

Ich treffe den Spitzenkandidaten auf der Straße: Waren Sie schon wählen?

Ich muss mich zusammennehmen, nicht in die alten Verhaltensweisen zu verfallen, über die ich mich im Nachhinein immer selbst ärgere: Ich würde sagen: nein und blöd grinsen, in meiner Phantasie und zu Hause vorm Spiegel würde ich natürlich anders, cooler agieren.

Ich so: Wählen? Zwischen was?
Er so: Heute ist Landratswahl. Sie sollten Wählen gehen, wir brauchen Ihre Stimme.
Ich so: Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ich bin zum Wählen viel zu verschnupft.

Mit dem letzten Satz sperre ich die Haustür auf, merke im Hausflur, dass ich allein bin.
Hoffentlich habe ich gar nichts gesagt.

(Überschrift aus »Bronsteins Kinder« von Jurek Becker)

Alles über…

Menschen schauen zu selten nach oben, Gewohnheitstiere wie sie sind, den Blick geheftet auf den Futternapf, das Bequemste findet sich immer in Augenhöhe.

Bekomme ich einen von ihnen zu Gesicht, streift mein Blick zuerst seine Hand; ich zähle die still die Ringe an seinen Fingern – jeder ist mir einer zuviel.

Ich schaue nach oben und seh‘ sie von unten.
Ich zähle still meine Ringe unter den Augen.

Duck, Duck, Goose

Die Party ist zu Ende.
Neben mir liegt schlafend der kleinste Bruder des Gastgebers, irgendwer ist mit irgendeiner Blonden nach Hause gegangen und der Rest ins Bett. Ich werde einfach nicht müde, habe das koffeinhaltige Getränk in Reichweite und lasse die Gedanken kreisen.

  • Durch den Tag, den ich in Bad Homburg und im Schatten eines Baumes verbrachte, an einem Ort zwischen den Feldern, von denen man Frankfurt gut sieht.
  • Durch den Abend, diese Party, von der ich dachte, sie wäre schon gestern. Also habe ich einen Tag rangehängt, ranhängen müssen, einen Urlaubstag, in dieser Wohnung der Freundin, die ich selten sehe und mit der ich nichts teile außer die gemeinsame Erinnerung an vergangene Zeiten. Wir haben unterschiedliche Lebensmodelle, doch vielleicht ist gerade das manchmal entspannend wie es mit dem besten Freund entspannend ist, mit dem ich Abends nicht ausgehen kann aus ähnlichen Gründen. Durch die Party also, die ausgeklungen ist, mir noch im Gedächtnis steckt, wie die Situation draußen auf dem Balkon, in der ich mich fehl am Platze, unfähig in das Gespräch einzusteigen fühlte.
  • Zurück an den Platz, an dem ich am Nachmittag lag, das schlechte Buch zu Ende gelesen und nachsinniert habe. An diesen Ort, an dem ich auch hätte schlafen können, stünde nicht mein Fahrrad verschlossen im Keller, zu dem ich mir zwar Zutritt verschaffen könnte, dafür aber nicht verzweifelt genug bin; die Nacht also in Dingern verbringe, die sie hier Sitzsäcke nennen.

So schreibe ich hier, während alle anderen schlafen.
Manchmal ist mir genau dieses das Liebste.

Der Mann, der den Zügen nachsah

Ich mag diese Orte, an denen ich in der letzten Zeit ungewöhnlich oft meine Zeit verbringe. Manchmal frage ich mich, ob man früher, als wir uns in einem Wendehammer trafen, diese Zeit nicht auch an Bahnhöfen hätte verbringen können.

Dass ich die Abende in den Zeiten der Oberstufe mit Freunden in LKW-Wendeplätzen stand oder lag, war dem Umstand geschuldet, dass zwar 100 Meter entfernt eines dieser amerikanischen Fast-Food-Restaurant, die nächste Alternative allerdings etliche Kilometer weit weg war. Klar gab es noch den «Buntspecht», doch einen Sommerabend verbringe ich noch heute lieber draußen.

Bahnhöfe jedenfalls haben mit Wendemöglichkeiten nicht gerade viel gemein. Uns war damals nicht wichtig, woher ein LKW kam und wohin er vielleicht fuhr.
Ist es nicht romantisch, den Fernzügen hinterher zu schauen? Romantischer noch als die Abflugterrasse eines bekannten großen Flughafens, unmittelbarer.

Es ist schön, wenn ein nasser Zug den Regen der Welt unter das Vordach bringt, unter dem man sich nebeneinander auf alten Bänken aus Gitterstahl die Kälte aus den Armen klopft.

Smile and smile back

Ich packe meinen Koffer und nehme mit:

  • Freundliche Handwerker

Denn: Freundliche Handwerker helfen in abstrusen Situationen, so heute morgen, als die Tür der befreundeten WG verschlossen stand und die Bewohner wegen eines funktionsuntüchtigen Bads (mit dem die freundlichen Handwerker direkt zu tun haben) das Weite gesucht oder in den nächsten Wochen sowieso etwas anderes vor haben, als in dieser verregneten Stadt zu bleiben.

Dabei ist ihnen die urdeutsche Eigenschaft der Übervorsichtigkeit und des gegenseiten Misstrauens bestenfalls schwach ausgeprägt, sie sind zuvorkommend und freundlich.
So fällt Zufriedenheit leicht (Lächeln beansprucht nur halb so viele Gesichtsmuskeln wie grimmig schauen); Nach einem «da kann ja jeder kommen» als augenzwinkernde Antwort auf meine Frage winkte er mich hinauf,

durch das Loch in der Wand.