Die Bibliothek der Bilder

Mir kommt der Ausspruch eines Architekten in den Sinn: Man solle nur jene einladen als Gäste, mit denen man in einem Bett schlafen würde. Wie jene, bei denen ich wohne von Zeit zu Zeit für ein paar Tage, mit denen ich die Marmelade teile an diesem schiefen Bauerntisch in dem Raum gegenüber meines früheren Zimmers.

Eine S-Bahn so alt wie mein VaterHätte ich ein Haus, es hätte Zimmer für alle Freunde und nicht bloß zwei mit einer alten, doch guten Matratze. Hätte ich ein Haus, es verstünde sich als offener Hof, in denen jeder seine eigene Schlafstatt und alle dieses gemeinsame Wohnzimmer hätten mit einem offenen Kamin und Ohrensesseln aus meiner Großmutters Zeit.

Doch bin ich ein Reisender, der sich regelmäßig einlädt in die Hütten von Freunden, in die Leben der ander’n, sich an Gesprächen labend, an Diskussionen und altem roten Wein. Ich bin ein Wanderer, und so fahre ich hin. Ein Träumer, in Gedanken bei seinem Hof.

Wanderers Rocksong.

J. und T. und Frau Hoffmann

Ich kam in die kleine Studentenstadt irgendwann im Oktober 2000. Ich war – wie immer – sehr spät, so dass ich an der Orientierungswoche nicht teilnehmen konnte. (Tatsächlich habe ich erst Monate später von dieser Woche erfahren.) Mit einem Freund zusammen bezog ich eine Wohnung in einem Hinterhof neben einem Wohnheim für Ordensschwestern. Besuchern sagten wir stets, sie sollen sich am Schriftzug Jesus lebt orientieren, dann seien sie beinahe da. Unsere Wohnung hatte eine einzige Sicherung in einem Sicherungskasten außerhalb, den wir bald sehr gut kannten. Der Vermieter heizte sehr konservativ, der Gasherd in der Küche war eine Respektsperson, vor der ich nie wirklich die Angst verlor. Und trotzdem wohnten wir zwei oder drei Jahre in dieser Baracke.

ArrondissementDie letzten vier Jahre wohnte ich in der wahrscheinlich schönsten WG dieser Welt zusammen mit J., T. und Frau Hoffmann, der Katze. Wir waren in einer ökologischen Einkaufsgemeinschaft, statt Bier gab es Säfte. Alle spielten Instrumente, jeder wohnte irgendwie in jedem Zimmer. Ich habe einen Tanzkurs gemacht mit J., vor dem wir manchmal zuviel Wein tranken und dann an der Technik verzweifelten. J. zeigte uns ihre neue Schule nachts um halb 12, T. die Kirchen und Orgeln der Stadt. Wir waren zusammen auf Bällen, wir liefen zusammen im Wald, wir gingen zusammen spazieren, umarmten uns ehrlich und vermissen uns heute ein bisschen.

Letzten Montag bin ich vielleicht zum letzten Mal durch den Wald gelaufen mit dem wunderschönen Mädchen und T. Der letzte Tag, das alte Ritual; um ruhig zu werden, zu bleiben. Auf der Lichtung im Wald, auf der die Sonne brennt, bevor man wieder verschwindet zwischen den Bäumen. Der letzte steile Anstieg, nach dem die ersten Gebäude erscheinen. Und der schmutzige Weg in mein altes Büro, hinter jeder Tür Gesichter von früher.

Als ich abends in den Flieger stieg wurde mir langsam bewusst, dass der vergangene Montag einen Endpunkt markiert, die endgültige Trennung der Alma Mater und mir fachlicherseits. Doch dort oben wohnen Freunde, Freunde wie J. und T. und Frau Hoffmann in der wahrscheinlich schönsten WG dieser Welt.

Du bist immer der Erste, der „für immer!” schreit

Mich erreicht der Anruf eines lang nicht gesprochenen Freundes, von der Reeperbahn. In einem Skype-Fenster sehe ich ihn vor einem Hostel sitzend auf dem Trottoir, höre Betrunkene feiern, irgendwo geht eine Flasche zu Bruch. Er erzählt zwischen dem Lärm von Skandinavien und einer spontanen Entscheidung und dass er hofft auf ein Treffen, irgendwann Mitte September, irgendwo auf dem Weg in den Süden zum See.

Duck Duck GooseSie sagt, ich bin jemand, der in den Büchern reist, stets reiste. Ich sage, ich erinnere mich an vieles, zu ganz ungünstigen Zeiten. Ich bin ein bisschen in Tocotronic verliebt, in Tomte, Peryton und Thomas Bernhard und sie. Wenn ich Blog schrieb in der Zeit, von der sie erzählt, saß sie in fremden Ländern auf einem Berg und schaute ins Tal.

Jetzt reist sie wieder herum, doch statt zu lesen höre ich Musik, sitze im Fenster mit den Füßen über der Lehne des Stuhls. Ich schaue ins Nachtleben, zu den Menschen, die aufreizend flanierend in ihm verschwinden. Ich träume uns auf einen Gipfel, Schlafsack an Schlafsack nebeneinander gerollt. Doch für den Moment reicht dieses Glas Wasser und der Blick auf die Straße. Und ein Skype-Fenster zeigt das andere Ende des Landes und irgendwo platzt eine Flasche Bier.

— t: Thees Uhlmann – Römer am Ende Roms

Café Glockenspiel

Erzählt man Menschen, die im Münchner Zentrum leben, von jenen Motorrädern und Sportwagen, die mit quietschenden Reifen vor den akkurat ausgerichteten Sitzreihen des Café Tambosi am Odeonsplatz ihre Motoren hochdrehen, winken sie ab und verdrehen die Augen. Und sagen »Die aus dem Umland!«

Café GlockenspielIn den Cafés erkennt man Besucher von auswärts an ihrem hektischen Verhalten, die besten Sitzplätze zu ergattern. Ein Paar aus Mutter und Tochter mäandert durch das Café einen Tisch im Außenberich zu ergattern. Kaum dass sie sitzen, vergräbt die Tochter ihren Kopf in der Tüte eines billigen Kaufhauses und prüft die eben erstandene Kleidung.

Ich beobachte sie und erinnere ein Gespräch mit einem Freund an genau diesem Ort, eine Diskussion, eine Meinungsverschiedenheit, beinahe ein Streit. Ich widerspräche heute, wenn er vom Land und Entspannung erzählte. Vielleicht ist man das Leiden gewöhnt in den oft zu lauten Straßen in dieser Stadt.

Aber im Café, da macht uns Städtern niemand was vor!

Lighten up, Baby! I’m a Chicken!

Jeder braucht Träume im Leben. Dass ich die meinen nicht erinnere, ist eine Warnung, die ich nicht hören möchte. Ich habe heute auf dem Rad nachgedacht über alte Bauern und darüber, was ich studierte. Und was ich beginne. Ich habe ein paar Alternativen, doch keine ist golden.

Zigarren

Der erste Donner erwischte mich unter alten Platanen in den Auen des Flusses, kurz hinter dem Scheitelpunkt meiner Strecke. Dann brachen die Wolken. Mir fehlt ein Vergleich zu dem Regen, der minutenlang hielt. Binnen Sekunden standen die Schuhe voll Wasser, war ich nass bis auf die Haut. Ein Zustand, den man in Städten selten erreicht, zivilisiert wie wir sind. Da draußen, schutzlos, fühlt es sich ungewohnt, seltsam wunderbar an. Wie ein Gefühl aus vergangenen Tagen, nach dem man seiner Mutter nicht mehr begegnen wollte und sich bis spät abends durch die Felder der Nachbarschaft drückte.

Nach sechzig sportlich gefahrenen Kilometern explodieren meine Oberschenkel. Ich habe wieder begonnen zu spüren. (Diesen Eintrag schrieb ich im Liegen.)

Schiehallion

Vor drei oder vier Jahren stand im Raum, zusammen mit einem Freund an einer Tour gegen Atomkraft in England mit dem Fahrrad teilzunehmen. Ich kann mich noch erinnern, dass wir schauten, wie man mit dem Rad nach Dover käme, die Strecke führte von dort aus nach London. Wir beide schauten uns an, weil ziemlich gut klang, mit einer international zusammengewürfelten Gruppe abends zu zelten und die Strecke in ein paar Tagen hinter uns zu bringen. Natürlich kam damals irgendetwas dazwischen, aber die Tour habe ich niemals vergessen.

Segways in a row

Ich erinnere noch diesen Moment an einem ersten April, an dem man mir sagte, man hätte mein Rennrad entsorgt. Ich rief am nächsten Morgen noch einmal zurück in der Hoffnung, dieser schlechte Scherz löse sich auf. Es war ein altes Rennrad, mindestens halb so schwer wie ich, in strahlendem Metallic-Grün, und hatte kurz zuvor neue Schläuche, Mäntel und Bremsen bekommen. Weil die Hebel der alten Zehn-Gang-Schaltung am Rahmen befestigt waren und ich mich daran nie gewöhnen konnte, habe ich den ein oder anderen Nerv auf der Strecke gelassen (wenn Fußgänger kamen oder Radfahrer nach einer sportlich genommenen Kurve).

Die für vorletzten Herbst geplante Tour von Kiel Richtung Osten haben das Wetter und eine Erkältung verschoben. Es liegen originalverpackte Satteltaschen im Keller, and’res Gepäck und ein obsolet gewordener Plan. Und nun ist es gerade wieder so weit, ich bin in der Stimmung, in der ich auf einem Rad gut aufgehoben wäre. Alleine oder zu zweit. Ich hätte die Tour damals in England wirklich gerne gemacht, lieber Freund.

Alexander Supertramp

Ein Begriff geistert in den letzten Wochen auffällig vermehrt durch meine Timeline und durch meinen Reader. Und nun gerade eben drüben im Hafen ein Verweis auf einen Film über Freiheit.

Gegenwind

Hat das etwas damit zu tun: Warum fühlt sich 22:18 Uhr an einem Feiertag anders an als an einem Wochentag nach der Arbeit? Ich erinnere Zeiten, in denen ich morgens durch den Wald fuhr auf dem Rad und nicht in der U-Bahn in die Randbezirke der Stadt. Oder Dienstags um zehn den Gedanken dachte »dieses Papier lese ich hier unten am Fluss« und zur Theke ging einen schlechten Milchkaffee zu bestellen.

Es gibt noch immer die Zeiten, in denen ich Fotoalben Fremder besuche und sehne. Es gibt noch immer die Tage mit bestimmten Künstlern auf heavy rotation. Es hat einen Grund, warum ich in den Liedern nicht vorkomme, warum mich diese Fotos nicht zeigen. Zeit, das zu ändern? Zeit, entspannter zu werden? Auf den Kompass der Andern zu schauen und loslaufen, die rote Spitze als Warnung verstehend?

Wie einfach alles scheint zwischen den Zeiten, in denen man glaubt, nicht entfliehen zu können.

Der Teil deines Jobs, den Du gut machst
ist der Teil, über den Du dich kaputtlachst.

– Tom Liwa

Man kann nicht rausgehen, wenn der eigene Film im Augenkino läuft

»Zweieurodreißig« sagt sie und »wie immer«, während sie einen Becher über die Theke schiebt in einer mir unbekannten Größe. Sie lacht und ich zahle 40 Cent weniger als noch am Tag zuvor; auf meinem Weg zur U-Bahn steht sie vor ihrem Laden und ruft mir winkend »Ciao Bello« hinterher.

Ich bin wie stets in solchen Situationen paralysiert. Folgerichtig werde ich in den nächsten Wochen keinen Fuß mehr in dieses Café setzen. So war es immer.

Rückblickend wird mir deutlich, woher ich kam. Was für Zeiten das gewesen sind! Was das für Zeiten sind! Ich habe bei ihm mehr gelernt als wissenschaftlich zu schreiben. »Anspruchsvoll bist du geworden« sagt eine aus dem Schwarzweißfilm bekannte Figur und streicht mir sachte über den Kopf. Während ich vom Lehnsessel die Straße zum Museum überblicke, denke ich »Pech für die anderen, sie leiden darunter.« Doch: Der, der leidet, bin ich. Auch das habe ich gelernt in der letzten Dekade: Alles wird immer irgendwie gut.

On ne comprend pas
on ne voir jamais
on n’écoute rien

Und dieser Preis, dessen bin ich mir sicher, ist angemessen hoch. Es wird doch niemand verhungern, oder? Es wird noch niemand hier verhungern?!

Peryton

Einer der spricht wenn Du redest

Als wir gestern bei einer Tasse Kaffee saßen – und wir saßen bei vielen, während der Regen die zimmerhohen Fenster herablief – überlegten wir uns wie wir reisen für diese Firma, die es nicht gibt. Wir schrieben die Worte mit dicken schwarzen Stiften auf ein ansonsten ganz leeres Papier, durch Ausrufezeichen getrennt: Less! Trains!

Das wunderschöne Mädchen sagt: Ja, das bist Du.

Und fragt mich, was ich die letzten Monate machte. Ich frage stumm; wir leben zusammen. Sie sagt, ich hätte in den vergangenen Monaten anders geredet und sie fragt mich, wer spricht wenn ich rede.

Ich schüttle den Kopf. Die Werbung an der Biegung der Straße war ungewohnt hell und die Musik war ungewohnt laut. Man zog mich mehr als das ich ging. Und alles, was ich sagen kann klingt unglaublich albern. Ich kann nicht einmal böse sein, wenn Du drüber lachst.

Die Intelligenz der schönen Menschen

Von: Niels Fallenbeck
Betreff: Die Intelligenz der schönen Menschen
Datum: 9. Juni 2011 11:47:59 MESZ

Liebes Leben

ich bin etwas unausgeschlafen heute und trinke Unmengen Kaffee, um mich auf die Arbeit hier konzentrieren zu können. Aber dennoch (oder deswegen) geht es mir gut. Ich habe gestern bis zwei Uhr gearbeitet; Du siehst, ich mache das gern, wenn – wie man sagt – der Outcome das lohnt. Und die privaten Projekte lohnen das immer.

Die Freiheit und das Ich

Den Sinn sehen; Ich lese zahlreiche Texte in Büchern oder in Blogs, die meine Gefühle erklären: Mich interessiert nicht das Angebot vom Autohaus nebenan, das mir einen AMG-getunten Mercedes als Dienstwagen bietet, im Gegenteil: Ich liebe mein Fahrrad. Und ich habe die Nacht mit etwas verbracht, was mich mehrere einhundert Euro kosten wird. Trotzdem war ich um zwei Uhr zufriedener als ich’s bin gerade jetzt im Moment.

Draußen ziehen sich dunkle Wolken zusammen, die Gebäudeautomation fährt panisch die Jalousien herunter und die indirekte Beleuchtung herauf. Es ist ein sympathisches Gebäude, wie ein zweijähriges Kind. Es ist, liebes Leben, vielleicht ein Platz, der in den nächsten Jahren seinesgleichen sucht. Es ist nur so, dass all dies kaum zählt.