Gegenüber auf dem Spielplatz beißt der Hund sich durch den Reifen

Drei Wochen vor Mantua. Ich sitze ich ein gutes Stück im Norden. Lächerlich wenig nördlich um zu behaupten, so lange nicht nördlich gewesen zu sein. Ich wusste bis heute Abend nicht, dass es Ein-Sterne-Hotels gibt und schlafe nun in einem. Um die Durchsagen nicht zu hören am Hauptbahnhof für die Züge gen Norden – für die Züge gen Süden – habe ich die neue Kettcar-LP zum zweiten Mal gekauft.

Ich wasche die Haare mit Handseife, weil ich auch in dieser Hinsicht mit minimalem Gepäck reise.

Du sagst, nach allem was Du weißt
ist noch nie ein Boxer in den Kampf gegangen
der Vorsicht heißt

Vor vielen Jahren traf ich einen Block weiter einen Freund, quartierte mich einige Monate später erneut bei ihm ein und kaufte mir die zahlreichen Bierkästen selbst, die ich abends dann trank, während ich durch die dunklen Wiesen der Vorstadt lief, in der er damals wohnte. Es gibt etliche Fotos aus der Zeit, aus dem Sommer, vom Steinhuder Meer.

Ich wusste bis heute Abend nicht, dass es Ein-Sterne-Hotels gibt. Es fühlt sich gut an, hier zu sein.

Du sagst, nach allem was Du weißt
hast Du noch nie ein Pferd ein Rennen gewinnen sehen
das Trübsal heißt

— t: Kettcar: Kommt ein Mann in die Bar/In Deinen Armen

Mr. Chesterton

Ein Mann, über zwei Meter groß mit schlohweißem Haar. Und ein Mädchen mit schwarz lackierten Nägeln am Tisch gegenüber. Ich habe die Musik gefunden für meine Reise über die Felder vor der großen Bühne des Marschlands, auf der sie täglich das stets gleiche Stück Dämmerung geben. Und doch vermisse ich heute einhundert Dinge; allein das ist viel besser als sonst.

LandmarkEs gibt den Stadtmenschen, es gibt den Landmenschen und es gibt den Menschen der Schiene: Ich liebe Fenster nirgends so sehr wie im Zug und Bäume nirgends mehr als neben dem Gleis. Ich habe Lehrmeister um mich versammelt und mir vorgenommen, bis zum nächsten Bahnhof den Horizont nicht aus den Augen zu lassen.

Das ist vielleicht diese Art von Erklärung, die mir fehlte, als mich letztens wer fragte, warum ich meinen Monitor abgebaut habe und der Schreibtisch aufgeräumt ist. Es ist die Erklärung in den mir noch fehlenden Worten, die ich ihm unbeholfen mit ausladender Geste über den Schreibtisch fegend gab: Die Weite.

Niemals ankommen

Seitdem ich das letzte Mal hier gewesen bin, ist einige Zeit vergangen. Wenn ich mich recht entsinne, kam ich aus Tübingen, machte einen Zwischenstopp in Augsburg, und weil die Stadt auf den ersten trüben Blick im Winter langweilig und das Museum der Augsburger Puppenkiste zu klein war für einen ganzen Tag, fuhr ich am späten Nachmittag weiter nach München, setzte mich in die Bahnlounge und überbrückte einige Stunden.

WartehalleAls dieser Bereich gegen 22 Uhr geschlossen wurde, verbrachte ich die letzte Stunde des Wartens in einem der kalten Cafés im ersten Stock des Münchener Hauptbahnhofs, wartend auf den Zug aus Frankfurt, das wunderschöne Mädchen. Seitdem bin ich selten hier gewesen im Wartebereich. Man geht nicht in die Lounge in jener Stadt, in der man lebt. Heute morgen hingegen kam ich absichtich eine Stunde zu früh – mein Zug fährt erst in einigen Minuten – und tauschte den italienischen Espresso, den ich am Wochenende zu Hause oft trinke gegen den kostenlosen Pulverkaffee aus den monströsen Automaten der Lounge. Doch dies ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Der Rest hat damit zu tun, dass ich genieße, wieder öfter zu reisen, Kaffee in den Zügen zu trinken, den Kaffee hier im Wartebereich.

Es gehört dazu, ist deswegen per definitionem angenehm gut. Wie der Kaffee aus dem Automaten im Eingangsbereich der Universität, dessen Nummer ich stets erinnern werde, wie ich die Buchrückenbeschriftung der Kochbücher noch immer erinnre, die ich Zeit meiner Jugend beim Frühstücken las.

Diese Dinge, die man nicht schlecht finden kann, die außerhalb stehen des Wertebereichs.

24.12.65 v. Frl. Brendel

Die schönsten Dinge findet man mitunter in Läden, in denen man diese nicht erwartet. So geht man gewöhnlich zum Bücherkauf in einen der großen oder kleinen Buchläden am Platz und Musik kauft man im Plattenladen, in einer großen Elektronikkette oder gleich bei iTunes im Netz.

Als wir heute den kleinen Laden betraten, hatte ich anderes im Sinn als einen Stapel Bücher oder Musik; das ist gemeinhin die beste Voraussetzung für die Entdeckung toller Literatur und CDs. Das Buchregal stand versteckt hinter einer Ecke, so dass man sich unvermittelt vor einem unsortierten Regalmeter antiquarischer Bücher fand. Gegenüber stand ein leergeräumtes (oder nie wirklich gefülltes) Regal und die wenigen Schallplatten gaben ein verlorenes Bild.

Brendel-LPIch bin nicht sicher, ob diese Schallplatte zumindest kurz im Besitz der Familie Brendel gewesen ist. Das Frl. spricht dagegen – Alfred Brendel war zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet – kann aber gut eine Form der Ehrerbietung darstellen, mit deren Hilfe der Beschenkte, ein Professor der Medizin, der in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts sein erstes Buch veröffentlichte, seine Zuneigung zu Frl. Brendel, durchaus zum Pianisten höchstselbst, zum Ausdruck brachte. Der beigefügte Zeitungsauschnitt aus der Süddeutschen Zeitung vom 18. November 1965 deutet darauf, dass er begeistert war vom vierunddreißigjährigen Brendel. Andere Schallplatten untermaueren dieses Gefühl; Im beinahe leeren Regal fanden sich noch weitere, allesamt von Brendel, allesamt aus dem Besitz des Professors,

dessen Andenken ich nunmehr zu Teilen bewahre.

Ich würd Dir helfen, eine Leiche zu verscharren, wenn’s nicht meine ist

Es liegt verschwommen lange hinter mir, wie genau ich die Nationalgalerie entdeckte und mit ihr Niels Frevert als Sänger. Auf meinem iPod findet sich aus jener Zeit nur eines seiner Soloalben. Vielleicht habe ich meinen Vornamen im Internet gesucht und ihn gefunden, der sich nicht herumtreibt in den üblichen Kreisen, heute aber von Tapete Records verlegt wird, was dann wiederum doch zum Rest meiner Plattensammlung passt.

Rettet alles!Irgendwann im November hat das wunderschöne Mädchen dieses Album entdeckt. Vielleicht suchte sie meine Lieder und blieb eine Zeile darunter hängen. Und irgendwann fragte sie beim Kochen, ob ich ihn mehr schätze als irgendwen sonst.

Überraschung! Ich war g’rad in der Gegend,
ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.

Einen Monat später markiert sein Konzert das erste seit langem. Hätte sie nicht gedrängt und Karten gekauft… (Ich kenne mich zu und Frevert dagegen nicht gut genug.) Er und seine wunderbar sympathische Band als Gegenpunkt zum Rock’n’Roll-Lifestyle, für den man irgendwann zu alt wird, der vielleicht mittlerweile bloß nervt. Eine Anmoderation, die man ihm glaubt. Ein Freund meldet sich eine Weile nicht und einer fährt vorbei und schaut mal nach ihm.

Es gibt Alben in meiner Sammlung, deren Kauf verstehe ich erst fünf Jahre später.

– t: Niels Frevert – Wohin hat es Deine Sprache verschlagen?

Aus vollen Zügen

Unterwegs in den Norden reisen heute Menschen mit mir, die vielleicht zum ersten Mal mit Zügen fahren in ihrem Leben. Die alte Dame vor mir, deren Mann vielleicht gestorben ist in diesem Jahr, der die weihnachtliche Strecke zum Sohn stets mit dem Auto gefahren und die, wie sie erzählt, noch rechtzeitig aus dem Krankenhaus entlassen wurde, um dieses Jahr mit dem jüngsten gemeinsam zu feiern. Dabei klickt sie auf dem Handy mit sehr großen Tasten und der Einstellung Tastenton: laut.

Und gegenüber der Junge hört lauten Rock.

Das Fest der Liebe

»Ach, das war ein gutes Jahr, alleine für mich, alleine für uns.« Sie glaubt es und ich klicke mich weiter durch persönliche Wünsche auf auf der neuen Timeline von Facebook. Grüße, vielleicht sind auf der Toilette entstanden mit der neuesten App für das Smartphone, mit ungewaschenen Händen. Und doch: Es erreichten mich viele Briefe und viele eMails in den vergangenen Tagen, handgeschrieben oder persönlich intim, allein unerwartet und selten. So erwische ich mich in Gedanken, erwische mich bei »ich müsste endlich« und »ich könnte einmal«.

Das sind – jedes Jahr – die gleichen Gedanken. Und doch: Das war ein gutes Jahr, trotz allem und trotz dem ich so denke. Aber: Ich habe meinen Füller dabei!

Und der Schaffner sieht aus wie Götz Alsmann.

Um zu entspannen spielt sie Klavier

Es gibt wenige Fotos, obwohl das Instrument bereits vor zwanzig Jahren eine Reise hinter sich hatte, über die Menschen Bücher schrieben und schreiben. Deutlich vor 1989 kam es – auf verschlungenen Wegen – in unser damaliges Wohnzimmer, doch mir liegen jene Pfade im Dunkeln, ich war noch zu jung und zu wenig interessiert. Heute habe ich keinen, der sich erinnert oder jeder winkt ab.

Leipzig/DDREs ist kein Klavier von C. Bechstein und keines von Steinway und Söhne, aber es reicht, um dem Klavierbauer einen anerkennenden Pfiff über die Lippen zu jagen, als er es zum zweiten Mal stimmt. Ein Klavier, dem die fünfzehnjährige Auszeit im Keller nichts machte, in warmem Weiß, raumfüllend, mit einem Klavierhocker mit weinrotem Bezug. Ein Klavier, das in dieses Zimmer gehört, als hätten sie das Haus darum geplant und gebaut; ein Herr im Haus, freundlich bestimmt.

Steht man drüben im modernen Museum, in dessem neuen Café oder in der sich zu unserem Haus öffnenden Halle, kann man nicht nur die Bücherregale erkennen, den alten Ohrensessel und die alte Leselampe, sondern ebenso gut auch dieses weiße Klavier. Von Zeit zu Zeit stehe ich drüben, abends, und beobachte sie. Um zu entspannen spielt sie Klavier.

Bene merenti

Bei jedem seiner Sätze leuchten die Augen; in diesen Momenten scheint er wie ein sehr altes Kind. Unten im Keller öffnet er stolz eine neu gestrichene Tür und doziert, es gäbe sieben oder acht Räume dieser Art hier unten. Später hat er die Zahlen genauer im Kopf, wenn es nicht mehr um Batterien für die Notfallstromversorgung geht, wenn es sich nicht nur um Randdetails handelt.

Noch weiter im NordenZwei Stockwerke höher kennt er jedes Detail, er weiß jede Information zu vielen der zig tausend Server, die aufgereiht laut vor uns liegen. Er öffnet in kindlicher Überheblichkeit Serverschränke und Racks und schiebt jeden von uns eigens in den Luftstrom um sich versichern zu lassen, wie ungewohnt warm dieser ist. Nur von Zeit zu Zeit fällt mein Blick auf die unkontrolliert zitternde Hand, die den Schlüssel umklammert zu all diesen Räumen, die diesen nie loslassen will.

Ein paar Meter weiter nehmen wir Abschied – in einem Raum, in dem bis vor kurzem ein Supercomputer stand. Wie viel zu dicke Rüssel fallen in engen Abständen gewaltige Absaugstutzen von der Decke herab, nutzlos geworden wie der alte vor uns stehende Mann, der dieses Gebäude einst plante, aufbaute und nun nicht loslassen kann.

Ein Professor des ganz alten Stils.

Die Bibliothek der Bilder

Mir kommt der Ausspruch eines Architekten in den Sinn: Man solle nur jene einladen als Gäste, mit denen man in einem Bett schlafen würde. Wie jene, bei denen ich wohne von Zeit zu Zeit für ein paar Tage, mit denen ich die Marmelade teile an diesem schiefen Bauerntisch in dem Raum gegenüber meines früheren Zimmers.

Eine S-Bahn so alt wie mein VaterHätte ich ein Haus, es hätte Zimmer für alle Freunde und nicht bloß zwei mit einer alten, doch guten Matratze. Hätte ich ein Haus, es verstünde sich als offener Hof, in denen jeder seine eigene Schlafstatt und alle dieses gemeinsame Wohnzimmer hätten mit einem offenen Kamin und Ohrensesseln aus meiner Großmutters Zeit.

Doch bin ich ein Reisender, der sich regelmäßig einlädt in die Hütten von Freunden, in die Leben der ander’n, sich an Gesprächen labend, an Diskussionen und altem roten Wein. Ich bin ein Wanderer, und so fahre ich hin. Ein Träumer, in Gedanken bei seinem Hof.

Wanderers Rocksong.

Bis der Abspann die Hauptrollen verkündet

Erkenntnis kommt mancherorten und zu gegebener Zeit überraschend spontan. Kurz nach einem ersten Treffen, nach zwei Wochen vielleicht oder nach Jahren guten Kontakts.

Frau Hoffmann/GasseEs bleiben wenige bis zum Ende. Es gibt im Leben verschiedene Zeitfenster, in denen man spezielles erträgt. Ein Leben in Berlin beispielsweise, eine Vielfliegerkarte oder ein Haus auf dem Land in der Nähe der Eltern. Und fast alle Menschen, die man je traf.

Du sagst, Du seist sentimental – wir waren an einem Ort, um den unser Leben sich zeitweise drehte; wir trafen uns mit Freunden, die sicher bleiben bis zum Ende des Films. Ich will Dich beruhigen: In der Vorstellung gestern war das Publikum sehr speziell, eben jene, von denen ich rede. Eben jene wie Du.

Wann immer ich gehe, ein Teil bleibt zurück als Element einer mäandernden Spur. Und manchmal, an den Kreuzungen oder den ausgetretenen Wegen erinnern die Weiden an eine lange vergagene Zeit. Und spiegeln sie wider und halten sie wach. Bis an das Ende des Filmes. Wie ich hoffe:

noch eine verdammt lange Zeit.