Zwischen zwei Revolutionen

Wenn ich mich zurück erinnere, sehe ich zwei Küchen, in denen ich jahrelang saß: Da ist zum einen die Küche im Haus meiner Eltern, seinerzeit modern eingerichtet mit Schränken in einem Grünton, der aus der Zeit stammte vor meiner Geburt. Es gab ein mehrbändiges Kompendium mit Rezepten, dessen Buchrückenbeschriftung ich noch immer aufsagen kann. (Sprich mich darauf an, wenn wir uns das nächste Mal sehen.) Zum anderen sehe ich die Küche meiner Großeltern, in der ich ein regelmäßiger Gast gewesen bin zu Zeiten der Mittel- und Oberstufe im Gymnasium unserer Stadt. Beide hatten miteinander gemein, dass sie zum Wohnraum hin geöffnet waren, lange bevor Einrichtungszeitschriften diesen Trend in die breite Masse trugen, in Städte wie Frankfurt oder Berlin, in denen man umgehend das Alte herausriss und ersetzte durch in Küchenstudios entworfene Orte mit Klarlackschranktürdesign. Zu dieser Zeit nahm ich die Speisen in höchster Eile zu mir, nicht um diesen Orten zu entfliehen – das jedenfalls war nie der Grund. Ich kann mich jedoch an an keinen Moment erinnern, in dem ich bewusst in der Küche saß, jemanden zu treffen, weil andere dort gewesen sind.

Zwischen zwei Revolutionen

Zwei andere Küchen wurden in den Jahren danach viel wichtiger als jene, in denen ich als Jugendlicher aß. Erst viele Jahre später in Marburg wurde mir jene im Grimm-Haus lieb, genau genommen ein kleiner Raum, in dem wir speisten und tranken, weil die Küche sehr klein gewesen ist. Trotzdem habe ich mehrere Abende im Kopf, an denen wir sogar vor der Küchentür saßen im Flur, weil man sich dort naturgemäß traf. Andere standen vor dem kleinen Herd und kochten mit Resten, die einem eine Bäuerin für wenig Geld auf dem Markt überließ. Und ich erinnere das alte Haus am Ufer des Chiemsees, das in wenigen Räumen einen Ofen besaß. Man weilte im Winter stattdessen am Herd, der eine angenehme Wärme verstrahlte.

Daran also musste ich denken, als ich diese dreiviertelstündige Dokumentation eben sah, über einen Menschen, den ich sehr beeindruckend finde. Das Internet jedoch würde ich nicht aufgeben wollen, die Empfehlung kam schließlich hierüber von Lu. 

So etwas tut man nicht!

Manchmal Abends, nach Tagen wie diesen, liege ich im Bett und denke an G. Ich denke daran, wie und warum ich ihn schätze, durch was für einen Zufall wir uns trafen (oder besser: er mich). Ich denke an alles was kam in den Jahren danach, schließlich warum ich hier sitze, wie ich bin und mit wem. Dann merke ich, dass ich die Stimme, die sagt »das kannst Du nicht machen!« von Monat zu Monate leiser vernehm‘.

Aufklärung

Ich weiß genau, wovon ich träume, wenn ich mich sehe in wenigen Jahren. Doch gibt es einen Teil meines Lebens, der ist mir noch nicht völlig klar; den sehe ich nicht. In Gedanken versunken, an Abenden wie jenen eben erwähnten, blitzt er manchmal hervor. Dieser Teil meines Lebens ist noch unterwegs. (Im anderen als dem üblichen Sinn.)

Dass Leute doof sind setze ich als bekannt voraus

Ich höre die Stimmen schon wieder, den vorwurfsvollen Unterton, der einem stets entgegenschlägt von jenen, die sich ständig gut gelaunt geben und die nicht verstehen, dass man sich nicht für Fußball interessiert.

Twitter

Es ist mir durchaus nicht unbekannt – die Fußballturniere, zu denen Deutschland wieder fahnenschwenkend jubelt, hinterlassen bei mir ein komisches Gefühl; ich bin eher auf Seiten derer, die Wimpel stehlen als bei den Froh-Nationalen auf den innerstädtischen Fan-Meilen. Manche drehten sich um in einem der vergangenen Jahre und zogen wortlos davon, wenn ich verständnislos fragte »Wir?« als sie analysierten »Wir haben konkurrenzlos gespielt«.

Ich habe Arbeitskollegen, die fünfmal beim Oktoberfest waren, mir haben wildfremde Menschen auf Partys erzählt, das müsse man sehen. »Nein«, pflege ich dann stets zu sagen, »man muss nicht alles kennen, das man nicht mag«. Dass ich sehr wohl weiß, was in den Zelten passiert, erzähle ich selten, meist später am Abend, denn es hat mich nachhaltig verwirrt.

G. sagte einmal, dass mir egal zu sein hat, was die anderen machen (natürlich in Grenzen). »Ich weiß schon«, sagte ich damals und genau so denke ich jetzt. Aber verstehen kann ich das nicht. Auch nicht, dass man den stets gut Gelaunten gibt, den Macher, der stets unterhält. Verstehen kann ich das nicht. Ich glaube: Verstehen will ich das nicht.

(Die anderen denken wahrscheinlich vergleichbar von mir: Der sich stets fernab stellt der Gruppe – ein Freund nennt das Milieustudie – und sich nicht einlässt auf das was passiert – einer aus Spanien hat mir einmal erklärt »Wherever you go, do what the people do!« – wird nicht Teil unsrer Gruppe.)

t: Tocotronic – Digital ist besser

So lang‘ ich noch hier bin, bin ich nicht ausgestorben (oder im Zoo)

Als ich am Sonntag erst den Blogeintrag schrieb und später ein Foto gepostet habe, auf dem ich nach einer Radfahrt durch den Regen zu sehen bin, habe ich Kommentare, sogar eMails bekommen, von Menschen die sagten, ich sähe nicht aus oder mindestens anders als sonst. Ich habe im August des letztens Jahres bei der Fraunhofer angefangen, etwa acht Wochen später ist M. morgens auf Abstand gegangen mit den Worten »Mensch, siehst Du scheiße aus«.

Als ich vor wenigen Jahren mit B. und J. durch die Mensa ging, haben Erstsemesterstudenten ehrfurchtsvoll unsere Wege gemieden. Ich war das nicht anders gewohnt, doch J. sagte mir, ich sähe aus als würde ich Menschen fressen. Und Madame sagt so oft, ich soll doch bitte freundlich schauen, wenn ich ausgeglichen auf einem Sofa sitze und mich entspanne. Ich halte nichts von der Theorie die behauptet, wenn man die Gesichtsmuskulatur entspannt, würde man lächeln.

Berlin, Aufzug, Gute Laune

Den einen Freund, deutlicher fortgeschritten im Alter als ich, verstehe ich besser, je älter ich werde. Es gab eine Zeit, da ging es mir schlechter als jetzt oder sagen wir lieber: Ich war schlechter gelaunt. Ich dachte »Irgendwas muss sich doch ändern!« und irgendwas ändert sich jetzt.

Wenn ich am Sonntag nicht glücklich aussah, lag das möglicherweise am Regen. Doch eher an diesem einen Problem, das heute bereits nicht mehr existiert. Es ist, wie der Satz eines Freundes beschreibt:

Wenn wir jammern, dann darfst Du niemals vergessen,
ist das Jammern auf hohem Niveau.

t: Moritz Krämer – Aussterben

Vom Drama, Zeit zu besitzen

Manchmal sind alle Tage grau. Und es gibt ja durchaus genügend Dinge, über die man sich aufregen kann. Etwa, dass man hier nur im ersten Stock wohnt und der Museumsbau gegenüber seit 2009 nicht nur den Alpenblick versperrt – die hat man sowieso nur von den oberen Stockwerken dieses Hauses gesehen – sondern auch seinen Schatten in die Wohnung wirft, da die Wintersonne in diesen Tagen zu niedrig steht. Oder dass man sich von Wochenende zu Wochenende hangelt, weil die Arbeitslast atemberaubend ist und die Deadlines nahen.

Irgendwo vor Augsburg

Ich finde bewundernswert, dass Madame nachts bis drei Uhr tanzen kann: Mir fallen auf (sogar guten) Partys spätestens um zwei Uhr die Augen zu. Die sich abends aufraffen können zum Sport beglückwünsche ich immer zu ihrer Überwindung, wohl wissend, dass mir die Tage selbstgewählt so kurz erscheinen und Zeit bleibt für beinahe nichts. Natürlich könnte ich U-Bahn fahren statt radeln und damit vielleicht eine Stunde gewinnen. Aber dann verpasse ich, was ich im anderen Fall erlebe.

Ich werde manchmal gefragt, ob ich regelmäßig Sport treibe. Oft verneine ich, weil ich mich wirklich daran nicht erinnre. Heute erst sagte ich zu ihr, dass ich sie nicht um ihre Hobbys beneide, wohl aber dass sie für etwas brennt. Sie widersprach, zählte zwei, drei Dinge auf, die mir so normal scheinen, dass ich sie vergesse.

Irgendwo hinter Augsburg

Doch eigentlich grummle ich nur aus Neid, weil ich weiß, dass es anderen besser geht. Zeitlich gesehen, finanziell sowieso. Die senden mir Fotos aus Italien, Bilder von einem See. Und dann, Sonntags morgens manchmal, habe ich auf einmal ganz schlechte Laune.

Allerdings: Ich glaube, die Argumentation geht auch andersherum gut. Wie das halt so ist mit dem Gras auf der Weide nebenan, das immer grüner leuchtet. Denn die braunen Flecken sind nicht Teil der Phantasie.

Pürreelinie 7

Das Gefühl, eine Abkehr vom Normalen, das oftmals in den Wäldern durch die Beine kriecht und anschließend den Rücken hinauf, das Gefühl geht ungefähr so: Die üblichen Steine, die man unter den Reifen spürt sind plötzlich nicht mehr wahrnehmbar, wenn die Musik in den Kopfhörer leise ist, hört man vielleicht ein Geräusch, das an ein kaum aufgeblasenes Schlauchboot erinnert, und dann irgendwann schlagen die Bremsflanken durch auf den Feldweg. Führt man keinen Ersatzschlauch, keine Luftpumpe und hilfreiches Werkzeug im Gepäck, verliert man einige Stunden zum Bus oder zur Bahn oder beim Warten auf einen Freund, der ein Auto besitzt.

Pause

Es beginnt die Jahreszeit, die ich herbeisehne seit ich Kind bin. Nicht weil ich im Winter geboren bin, sondern weil sie das Geräusch erweckt, das ich hören kann, wenn ich die Augen schließe: Das Knarzen des Schnees unter den Schuhen, irgendwo im Wald in völliger Stille. Ich wuchs zusammen auf mit einer Bernersennenhündin, die mir viele Stunden im Schnee bescherte. Damals waren die Spaziergänge ein Zwang, heute zehre ich von diesen Erinnerungen, die hinter dem Sportplatz liegen an den Rändern des Weges, der heute Naturlehrpfad ist.

Ich liebe die Abende, an denen das wunderschöne Mädchen erzählt, wie sie sich damals in ihrer WG mit Kohle die Gesichter schwärzten in einer kalten Dezembernacht jedes Jahr und loszogen, im Wald einen Weihnachtsbaum zu schlagen. Ich bin nie dabei gewesen, doch wenn ich die Augen schließe, habe ich die Geräusche dieser Nächte im Ohr, das Gewirr flüsternder Stimmen und das Knirschen des Schnees unter ihren Schuhen.

Pürreelinie 7

Sie hat heute Geburtstag und wir, wir sind im Zug unterwegs. Fort aus dem Regen.

Das entschwundene Land

Sie war meine erste Liebe, das Mädchen mit den roten Zöpfen, und erst sehr spät begriff ich, dass meine Liebe nicht ihr galt sondern der Autorin, die über sie schrieb. 

Ich wurde eingeschult in eine Zwergenschule, die vier Klassen hatte und zwei Klassenräume. Ich sehe heute noch ihren dunklen Keller vor mir, in dem die Gerätschaften lagen für den Garten hinter dem Gebäude, kann mich aber aus den vier Jahren, die ich an dieser Schule verbrachte, nur an einen einzigen Tag erinnern, den ich in diesem Garten verbrachte, am Teich. Lebendig sind noch die Stunden des Werkunterrichts, in denen wir Nistkästen bauten oder Staudämme im Bach; in diesen Stunden waren wir unabhängig des Wetters oft unterwegs in den Wäldern rund um das Dorf. Und lebendig ist die Erinnerung an die Frau des Schulmeisters, die meine Klavierlehrerin wurde.

Gewitter am Tegernsse

Wir Kinder hatten damals ein eigenes Baumhaus, entgegen des Mahnens der Eltern sind wir nie abgestürzt oder haben uns die Arme gebrochen; man entwickelt Bärenkräfte in brenzligen Situationen und wir kannten jeden Ast und wussten, welch einer trug. Wären wir nur zwanzig Zentimeter größer gewesen, wäre uns der Zugang zum Baumhaus durch die Büsche verwehrt geblieben. Das merkte ich Jahre später auf einem letzten Spaziergang, auf dem ich all diesen Stätten der Kindheit einen Besuch abstattete, «Auf Wiedersehen» zu sagen. Damals war die Hälfte des umliegenden Waldes bereits abgeholzt.

Ich habe Pippi Langstrumpf nicht mehr gelesen, als ich ein Jugendlicher war, ich habe Michel aus Lönneberga beinahe vergessen, als wir die Band gründeten und uns die Nächte vertrieben, Sterne beobachtend neben dem alten LKW-Wendeplatz. Doch mit neunzehn Jahren und zwei Freunden bin ich schließlich nach Småland gefahren auf den alten Hof in der Nähe von Vimmerby. Ich habe keine Fotos von damals und von der gesamten Woche weiß ich nur wenig, doch an diesen Tag erinnere ich mich deutlich: Ich sehe die roten Häuser noch vor mir, die Sonne und Büsche, in Zaum gehalten von weißen Zäunen aus Holz. Der alte Hof hatte als Vorbild gedient für Katthult und in ihm wohnten noch alle von damals, Michel selbst und Alfred, der Knecht. Alleine: ich wähnte sie dort nach so vielen Jahren.

Am Abend

Als Astrid Lindgren vor mehr als zehn Jahren starb, war ich so betroffen wie man sein kann, wenn eine fremde Person stirbt – als trauert man um wen, den man liebt. Allein: Eine Unbekannte war sie mir nicht, ich kannte sie durch die Geschichten. Und ich hatte erst gestern einen Kloß im Hals, den ersten wieder seit etlichen Jahren, als ich die Liebesgeschichte ihrer Eltern las, von Samuel August von Sevedstorp und von Hanna von Hult.

Wider des bedarfsgerechten Handelns

Wir leiteten in der Schule zusammen die AG Videoschnitt und haben Gleichaltrigen erklärt, wie man Filme macht. Er ist heute einer der Programmverantwortlichen eines großen Fernsehsenders, hat zwischendurch Journalismus studiert und das Fernsehen nie aus den Augen verloren, hat ein Faible im besten Sinne. Als wir uns vor zwanzig Jahren kennenlernten, erzählte er schon vom Fernsehen, ich plante immer schon in engeren Grenzen, fühle mich fremd, fragt man mich heute nach einem Termin im November.

Isarauen

Gestern nahm mich ein Freund zur Seite und erzählte, dass er Tage zuvor eine einsame Stunde verbrachte bei Stift und Papier. Mir fiel das schwarze Notizbuch ein, das ich nur selten noch bei mir trage, mit dem ich aber vor Jahren stundenlang am See saß, im einzigen Café im Schafwaschener Winkel. Viele veröffentlichte Texte stehen heute in Rohform auf den teilweise unleserlich beschriebenen Seiten, oft mit Bleistift geschrieben, um arbeiten zu können, umzusortieren und zu radieren. Hinten im Buch gibt es eine Falttasche, in der sich über die Jahre Postkarten gesammelt haben, Briefmarken und eine Liste mit Telefonnummern, weil ich schon immer in Wellen funktionierte und auch damals oszillierte zwischen völliger Ablehnung und völliger Hingabe zur Smartphone-Technologie. Ich habe mir gestern geschworen, das schwarze Buch wieder bei mir zu tragen und den Laptop dafür weniger oft.

Abenddämmerung

Das fiel mir eben ein, auf Höhe der Schule und des Cafés, in dem ich bisher nie saß. Es besitzt einen guten Blick auf den Hof und wenn die Eltern am späten Nachmittag ihre Kinder abholen, kann man beobachten, wie die Söhne und Töchter aus meist gutem Haus begeistert erzählen, in die Fahrradanhänger klettern oder nachdenklich schweigen, wenn der Vater seine Frage umständlich formuliert. Vielleicht ist dies ein Faible von mir, Menschen beobachten und darüber zu schreiben. Und vielleicht ist ein weiteres, wie ich beinahe zwanghaft Bücher nach ihrem Verlag durchblättre, um keine Lizenzausgaben des Bertelsmann Leserings im Schrank stehen zu haben.

All has been said only two words remain: Plan B

Morgens auf dem Fahrrad, während der neunzehn Kilometer durch den Park und den Wald, geht mir einiges durch den Kopf, das zu erinnern ich mir vornehme. Vergeblich sitze ich Abends vor einem Blatt Papier, das auch dann weiß bliebe, legte ich es nicht schell beiseite, um andere Dinge zu tun, der Niederlage nicht ins Auge zu sehen. Das war in den letzten Wochen einfach; es gab vieles zu tun.

5 Pf.

«Ach,» denke ich, «das muss sich ändern» und schlitt’re hinab. Ebenso zuverlässig ist man nach drei Wochen wieder obenauf, hat sich die Sinnfrage wieder und wieder gestellt, entschlossen gemurmelt «eigentlich müsste man …» und den letzten Halbsatz vergessen. Nur einer widerhallt im Innern des Kopfs: «Ich kann nicht, ausgeschlossen, habe gerade erst die Heizung entzündet. Draußen ist sonderbar kalt.»

Lampe

Wir kaufen dann irgendetwas, eine Lampe mit angenehm gelben Licht möglicherweise, und fühlen uns wohl. Lesen. Allein irgendetwas ist anders, wir können uns nicht konzentrieren auf die einzelnen Seiten der Bücher, blättern zurück, nochmal, weil die Worte verschwinden, vorbeihuschen, wir keinen Widerstand bieten, der Worte stoppt. Wir erinnern die letzten Absätze nicht. Eigentlich müsste man … Ich habe mir angewöhnt, schlechte Bücher zu verschenken. An meine Feinde.

— t: Number Seven Deli – Blame Me

Ein Älterer, ein Professor vielleicht

Das Café an der Uni liegt nicht weit entfernt von unserer Wohnung; in den USA würde man sagen zwei Blocks entfernt. Draußen haben sie die Straße gesperrt, weil Angela Merkel am Mittwoch auf einer Bühne in der Nähe redet. Sie bauen für die Einheitsfeierlichkeiten und seit Freitag müssen die Proleten auf neue Strecken ausweichen, ihre Sportwagen zu präsentieren.

Bar Ramazzotti

Hier drinnen ist das angenehm egal. Und ich habe nicht den Fehler gemacht, in die Karte zu schauen sondern gleich einen Cappuccino bestellt – diese Unwissenheit rettet in München den ein oder anderen Tag. Ich suche noch immer nach einem adäquatem Ersatz für jenes Café, in dem ich viele Jahre während der letzten Dekade verbrachte. Das man Dinge häufiger schlecht findet, mindestens bedenklich, liegt nicht am Alter: man kennt nur sehr viel andere, bessere Alternativen.

Café an der Uni

Am Nebentisch erheben sich endlich zwei Freunde, die sich seit langem zu ersten Mal wiedersehen; der eine normal, der andere im Anzug, weil ihm sonst nichts zum Beeindrucken bleibt. Man sieht das an der Körperhaltung auf dem Weg zur Toilette, daran wie seine Augen über die anderen Besucher schweifen und wie er sich sehnt nach erwiderten Blicken. In der näheren Umgebung lacht eine Studentin zu laut und eine andere, deren Gesicht mich an eine entfernte Bekannte erinnert, verhält sich seltsam vertraut. 

Die Arbeit und das, was ich wirklich mache

Ich konnte mir als ich noch jung war schon vorstellen an einem Ort zu vergreisen wie hier.

Viele Grüße aus Meran. PS: Den Kindern geht’s gut.

Es gibt in München ein Computergeschäft – zwar nicht in nächster Nähe, wohl aber (wie man so sagt) um’s Eck – an dem ich immer vorbeiradle, wenn ich an den Wochenenden der Croissants wegen eine kleine französische Bäckerei besuche. Als Jugendlicher stand ich oft in solchen Läden; zu jener Zeit war die Welt der Computer noch überschaubar: Es gab nur zwei Prozessoren und zwei Standards für Speicherbausteine. Während ich mich gestern in die Schlange in den Verkaufsräumen einreihte zwischen Studenten und Computerbild-bewaffneten Rentnern fiel mein Blick auf die Auslage: Prozessorkühler groß wie ein Kopf und Grafikkarten zum Preis eines Laufradsatzes für das Rennrad, das ich entgegen des Plans nicht in den Mietwagen bekam. Der Prüfstein gestern, die letzte Aktion: Noch einmal Technik, danach nur Natur.

Jaufenpass

Auf der Passstraße kam ich über eine Sache ins Denken, auch wegen des Kommentars zu einem der letzten Einträge, in dem es darum geht, dass einige Menschen finanziell auf Bonusprogramme und Angebote angewiesen sind. Irgendwo oben in Brenner (ich kann mich so gut erinnern, weil ich gerade an dem unsäglichen Outlet vorbeifuhr und an dem lange geschlossenen Lebensmittelgeschäft) fiel mir auf, dass ich niemanden kenne, der seine Lebensumstände permanent reflektiert. Egal welche Gesellschaftsschicht man fragt, lautet die Antwort des Großteils derselben, man verwende das Geld wenngleich nicht sparsam so doch mit Bedacht. Das sagt der mit seinem Ferrari auf der Theresienstraße Passanten beeindruckt wie einer, der im Supermarkt nach abgelaufenen Waren kramt. So natürlich auch ich, der überzeugt ist, man benötige für ein erfülltes Leben wenig mehr als ein Fahrrad, eine Wand voller Bücher und gute Musik. Ziemlich sicher noch eine Wohnung am See. Und wo wir dabei sind: ein altes italienisches Cabriolet.

Ist man unter seinesgleichen (und das sind die meisten), kommt man nicht auf die Idee, es gäbe etwas Billigeres und von dem Teureren sieht man nur Teile. Nach oben hin findet man den Lebenswandel der anderen absurd (ohne die Einzelheiten zu kennen, die einen noch kopfschüttelnder machten), nach unten hin – so man ihn überhaupt wahrnimmt – herrscht nur Bedauern und die Frage, ob das Geld, dass die haben, ausreichend ist. Allen reicht es jedoch meistens sehr gut. Ich kenne kaum jemanden der sagt, er verschwende sein Geld, hingegen einige, die nur das Nötigste kaufen, im einen Fall eben ein Sportwagen, im anderen die Currywurst im Sparangebot. In jedem Fall jedoch ist dies eine unbewusste Entscheidung in dem Sinne, von der Existenz des jeweils anderen nicht zu wissen; dies somit nicht nachvollziehen und überhaupt: keine Entscheidung treffen zu können.

Kurhaus

Das waren meine Gedanken, während ich über die alte Brenner-Passstraße fuhr. Dazwischen der alte bekannte, den ich auf dem Weg über die Berge immer schon denke: So ein Auto ist auch nicht viel teurer als ein Fahrrad, man hat natürlich das Problem, oben in München Parkplätze vor der Haustür zu finden. Aber das Passeiertal ist nur etwa 200 Kilometer entfernt, über den Brenner und den Jaufenpass hinab nach Meran. Und in Meran gibt es dieses alte Hotel, in dem man nur eine langsame und brüchige WLAN-Verbindung in der Lobby hat und einen Parkplatz im Hof. Viel wichtiger jedoch ist die Nähe zur Laubengasse und zum Aufstieg hinan zum Tappeinerweg, das erste Ziel gestern Abend meiner Flucht aus der Stadt auf den Berg. Das hört sich – unter uns – teurer an als es ist. Ich habe an der österreichischen Autobahnplakette gespart, bin Landstraße gefahren und habe sogar die restlichen Nudeln vom Tag zuvor mitgenommen, um sie oben am Berg, auf einer Bank, zu essen mit Blick über die Stadt. All das, die Fahrt, das Hotel, die Palmen und Sonne, all das war gestern alternativlos. Die Flucht – was ich als solche bezeichne – kam im letzten Moment.

Das hört sich dramatisch an, allein ich bin mir nicht sicher. Ich musste nur dringend raus.