Strophe & Gesang

Ein Zug ist der Beginn und ist das Ende aller meiner Reisen, die enden oder beginnen in der kleinen Stadt an dem Fluss. »Meine Liebe«, habe ich ihr zugeraunt, als der braune Lederkoffer über das Kopfsteinpflaster ratterte gen den beiden Menschen, die vor dem Café auf mich warten, »ich habe dich vermisst«.

Die Sommermädchen wechseln lachend die Straßen,
sie wissen, wie schön sie sind

Der erste Kaffee hinter den weiten Fensterfronten; wir haben uns nie vorher getroffen. Der Wind mischt sich in unsere Sätze, eine alte Tür schlägt an die Wand und J. erzählt vom anderen Ende des Landes, wir beide vom vergangenen Abend und er mahnt zur Besonnenheit, während er sich ein zweites Getränk bestellt. Ich deute seine spätere Nachricht als Dank für die Gewissheit, dass wir uns auch diesseits verstehen.

Dachstuhl

Auf dem Dach, in dem wir während der vergangenen Tage zwanzigmal saßen, erzähle ich, wie angenehm ich es finde: Wir erleben volle Stunden über den Giebeln gegenüber dem Rathaus, auf gleicher Höhe des blechernen Vogels, der stündlich seinen Unmut herausschreit und mit verrosteten Stummelflügeln schlägt, während unter seinen Füßen Gevatter Tod seine Sanduhr rotiert und Justitia mit ihren Waagschalen klappert. Die Stunden fliegen dahin, wir fallen aus dieser Zeit; Die zwei, bei denen ich wohne, haben sich frei genommen für mich; wir ziehen nachts über die Dächer und tagsüber durch die Cafés, wir sitzen am Fluss und wir verlieben uns wieder. Wir erwarten nichts voneinander, wir lassen uns treiben durch eine der bestmöglichen Zeiten.

Mate und Kuchen

Ich habe ihr erzählt von einem Gefühl, das ich seit langem habe, aus jener Zeit, vor der ich das wunderschöne Mädchen traf: Ich bin überzeugt (ja: ich hoffe), man kann einhundert Menschen gleichzeitig lieben. Und sie weiß, dass ich sie meine. Und er weiß, ich meine ihn.

Vogel

»Danke«, hätte ich ihnen zuraunen sollen beim Abschied, in der letzten Umarmung, »dass es euch gibt, für die vergangenen Tage.« Im Zug fallen mir all diese Sätze ein, die ich zu sagen vergaß.

Zärtlich streich‘ ich durch dein Haar,
Du wachst auf, reibst dir den Schlaf aus deinen Augen,
willst wissen, wo ich so lang‘ war

t: Flowerpornoes – Strophe & Gesang

Ich bin der Welt abhanden gekommen

Der Weg ist immer der Weg nach Hause. Ich bin zum ersten Mal während der Sommermonate in dieser Wohnung, aus der eine kleine verwinkelte Treppe in einen Dachstuhl führt, in dem die Sonne durch alte Fenster und verschobene Dachziegel helle Flecken auf den Holzboden brennt. Ich verlaufe mich, werde durch Rufe korrigiert und irre durch Räume bis ich den Weg ins Sonnenlicht finde; auf das Dach des Hauses, verborgen hinter einer Zinne und doch direkt über dem Marktplatz.

Dachboden

Ich erzähle ihr später, wie kompliziert es in Bayern ist, weil man an den Almen schwierig vorbeikommt ohne eine Dampfnudel oder Kaiserschmarren zu essen. Doch auch hier haben wir den Vormittag essend verbracht; morgens vor zehn, als sie noch schlafen, mache ich eine Kanne schwarzen Tee. Dies war der einzige Moment, in dem ich merke, nicht mehr hier zu wohnen, sogar: nie hier gewohnt zu haben. Ich finde mich leidlich zurecht und irgendwann doch die Büchse aus Blech mit dem Tee. Dazu gibt es Pralinen und ein Stück Schokolade zartbitter.

Frühstück

Obwohl ich niemandem erzählt habe, wo ich die nächsten Tage verbringe, finden mich Jene, die suchen, an den typischen Orten, an die es mich zieht. Sie stoßen dazu, wir begrüßen uns kurz und sie bleiben vielleicht auf einen Kaffee. Das funktioniert noch so, wie die Gesellschaft meiner Jugend noch vor dem Internet funktionierte: Man muss sich nicht explizit verabreden, man geht einfach bei Freunden vorbei. Kein Whatsapp, kein Threema, keine eMail und kein Telefonat. Wer mich treffen will, trifft mich. Wer nicht, trifft mich nicht (oder bestenfalls auf der Straße). Und wer mich kennt, weiß, wo ich auf ihn warte.

Café am Grün/Roter Stern

Hivemind

Ein Klick, ein Blick und sofort den Hörer zum Ohr »Wir müssen uns treffen!« Gestern in einem kleinen Gastraum im hinteren Teil einer zentral gelegenen Pizzeria erzählte er mir dann, wie alles begann.

Ich

Einen Teil der Gedanken habe ich gedacht, als ich aufs Meer schaute, als ich im Buch blätterte, als ich mich unterhielt mit dem wunderschönen Mädchen, stundenlang, das Brandungsrauschen im Ohr. Wir – das wussten wir später – waren an dem Ort, in den ich mich vor Jahren verliebte. Im Wind, zueinander unverständlich murmelnd, erging es ihr endlich ähnlich. Und am Ende, am Ende stand die Frage auf all jenes: »Wann?«

Sonnenuntergang auf Helgoland

Ich fahre Rad, um den Kopf freizubekommen.

Briefe die ihn nicht erreichten

Kannst du dir vorstellen,
allein in ein Café zu gehen
wenn du nichts dabei hast außer zehn Euro in bar?

Ich habe gezögert (einigermaßen lange gezögert) gestern das Haus zu verlassen. Bevor ich in Richtung des Antiquariats ging, habe ich die Notwendigkeiten erledigt, die Hemden in die Reinigung gebracht, Flaschen zurück und dergleichen Dinge. Ich war nun einige Wochen nicht im Antiquariat und nicht dass ich Angst hätte, dorthin zu gehen, weil man mich kennt und mich mit längst bekannten Fragen adressiert, so habe ich den Besuch gestern durchaus hinausgezögert. Auch nicht wegen einer Unsicherheit – ich habe in diesem Geschäft meine Routine: zuerst zu den wirklich alten Büchern in der Regalwand am Ende des Raumes, dann zu den Klassikern und schließlich ein schneller Blick auf die Regalreihen Bücher (gebunden). Doch vielleicht aus Respekt und Scham, in den Büchern Widmungen zu finden, die eine Lebenswelt aufspannen, von der ich Teil werde durch den Kauf jenes Buchs.

Reading

Ich habe vor Jahren ein Buch verschenkt und scheute mich eine Widmung anzubringen, obwohl ich durchaus etwas zu schreiben gehabt hätte. Das wusste auch der Beschenkte, der mich ansprach und dem ich mein Dilemma damit erklärte, gern etwas geschrieben zu haben und dabei doch das Buch unverkennbar an ihn zu binden, es unfrei zu machen, ihn unfrei zu machen es weiterzugeben. Heute suche ich gezielt diese Sätze auf den ersten Seiten, und ein Buchhändler erzählte, wie schwierig es sei, alte Bücher mit Widmung zu verkaufen. Ich gestand, das ein oder andere Buch, das mich wirklich nicht interessierte doch gekauft zu haben gerade wegen solch einer Widmung.

Widerlebe

Man kann die Verzweiflung spüren einer Liebenden, die ein Buch verschenkte an wen, der sie nicht zurückliebte, der das Buch losgeworden ist, peinlich berührt, schnell, ohne es gelesen zu haben. All das kann man erkennen am perfekt erhaltenen Einband, am Leseband, das liegt wie es in neue Bücher eingebracht wird. Dies ist die Tragik der Widmung, das ist mein Fernsehprogramm, ich leide in solchen Moment mit den Autoren der Worte, die jene Bücher eröffnen. Schlägt man es auf und entdeckt die Karte eines Hotels in Paris, die den Zugedachten niemals erreichte, dann bekomme ich eine Ahnung, warum ich mich winde, in Geschäfte mit alten Büchern zu gehen.

Grand Hotel

Sei Bewegt

Früher war nicht alles besser. Berlin zum Beispiel war gestern so gut wie niemals zuvor, nicht einmal, als ich monatelang gependelt bin. Wir haben uns vor das Café St. Oberholz gesetzt, was ich seit Jahren nicht schaffte, eine überteuerte Quiche gegessen und tranken Club Mate. Wir waren die einzigen ohne MacBooks (ohne Laptops generell), die einzigen, die sich miteinander unterhielten und dem überforderten Barmann beim Einholen der Markisen halfen. Es war nicht dieses Gefühl, das man abends in Italien oder München spürt, wenn man an den Straßen sitzt und die Flanierenden beobachtet; es war anders und schön auf seine eigene Weise. Sowieso, wir verstanden uns gut.

George

Was ich gestern erzählte, fällt mir jetzt auf meinem Sitz in diesem Zug wieder ein: Als das Pendeln aufhörte vor etlichen Jahren und eine andere Zeit begann, da vermisste ich nichts als das Zugfahren, die regelmäßigen vier Stunden, die ich für mich hatte mit meiner Musik und meinen Gedanken. »Ob ich tauschen möchte« fragst du. Die Antwort fällt mir leicht, früher war nicht alles besser.

Zirkuszelt

  

Du erzählst von deinem ersten Sommer in Berlin, ich von einer Zeit in Marburg, in der du bereits gegangen warst. So saßen wir den Abend vor dem St. Oberholz, tranken zwei Mate. Irgendwann sagtest du, du müsstest jetzt gehen. Und ich – natürlich – brachte dich zum Zug, fuhr ein Stück deines Weges in Richtung meines Hotels. 

Wanda Zirkus

Und auch wenn sie in Berlin jetzt italienische Rennräder fahren weil man das eben jetzt macht, dann habe ich in diesem Zug nunmehr sechs Stunden für mich, für die Musik und für die Gedanken. Und wenn man gute Kopfhörer besitzt und alte Platten hört – Delbo zum Beispiel oder Angelika Express – genau dann ist es heute besser als damals.

t: Delbo

 

Die besten Menschen der Welt

Meine liebe Freundin,

wenn du wüsstest, wie oft ich zurückdenke…
Nicht, weil es heute so schlimm ist, weil es damals so unglaublich gut war. Die Zeit in der Allee mit den Pflastersteinen, die uns durch die Südstadt führte jedes Mal hinauf in die Oberstadt, vom kleinen Markt gegenüber der alten Kaserne hinauf in die WG, die den Namen berühmter Vormieter trägt. Wir waren mit Äpfeln und Gemüse beladen und haben den Sommer verquatscht. Ich kann mich an den Lärm der Flügelschläge des Blechhahns erinnern, als sei es gestern gewesen; der Unerbittliche, der die Stunden über den Marktplatz peitschte, den G. immer herunterschießen wollte, wenn er da war. Und ich erinnere die Nacht, in der ich auf dem Markplatz schlief, weil ich die fünfzig Meter nach Hause nicht gehen wollte und morgens um Vier trotz Hochsommers von der Kälte erwachte. 

Damals

Ich stelle zur Zeit beinahe alles in Frage, andere sagen das merkt man mir an. Du würdest dich gut an mein altes Ich erinnern können in diesen Tagen, wirklich einfach war es damals schon nicht. Das war eine komprimierte Zeit. Wie sich im Großen alles wiederholt in Abständen von etwa zwanzig Jahren, wiederhole ich mich im Kleinen viermal so schnell.

Es ist das Bedürfnis von einem der stirbt, die Freunde um sich zu haben: Das Bild vermittelt die Literatur, das Bild vermittelt die Generation unserer Eltern. Du weißt, ich habe die besten Menschen der Welt, mit denen ich lebte und lebe, auch wenn wir uns selten berühren und selten sehen. Es sind die Menschen am Firmament, my personal milky way. »Man müsste« ist ein Satz, den wir streichen müssen. Ein Drittel meines statistischen Lebens ist vorbei, ich sollte nun dreimal so viele Entscheidungen treffen, um im Einklang zu sein.

Damals

Ich lese gerade sehr viel.
Ich schreibe gerade zu selten.

Wir sehen uns bald! 
Herzlich, Dein N.

Photos: G.

Das Bild im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Ich habe den heutigen Feiertag damit verbracht, Betriebssysteme von Mobiltelefonen zu aktualisieren. Nun kann man einwenden, dass dies ja nicht nötig gewesen sei und die Telefone früher oder später wieder in der Schublade verschwinden, man also die Zeit hätte durchaus sinnvoll verwenden können, doch den Kern der Sache trifft das nur halb. Wir, die nicht aufpassten, sind zu einem Volk von Smartphonebenutzern geworden, die nützliche Funktionalität mitbringen. Und ebenso natürlich verändert sich unser Verhalten. Waggons voller guter Beispiele bieten sich morgens in der U-Bahn oder im Bus. Als Dorfkind bin ich in den den Achtziger Jahren keine U-Bahn gefahren, als ich Ende der Neunziger Jahre Abitur gemacht hatte, besaß einer von einhundert ein Telefon: Ein großes graues Gerät mit grün-schwarzem Bildschirm, der nur Zahlen darstellen konnte.

Nokia 6310i

Von Zeit zu Zeit hole ich ein altes Telefon aus dem Schrank, bei dem man als Benutzer wenig selbst machen konnte: Keine Bilder, kein Social Media, Telefonieren und Nachrichten schreiben ging schon. Um das Betriebssystem des Telefons zu aktualisieren, musste man zu einem der seltenen Händler gehen, die ein spezielles Gerät in der Werkstatt hatten und eine Stunde warten. Jedes Update kostete Geld und eigentlich waren die Updates damals ebenso wichtig wie heute. Nicht erst nach dem Sturz vorgegangene Woche habe ich darüber nachgedacht, ob es wirklich ein Gewinn ist, mit dem Telefon zu fotografieren und die Bilder unterwegs in die sozialen Netze zu laden. Was würde sich ändern, eine Kamera mitzunehmen um erwähnenswerte Situationen festzuhalten und diese Abends vom Laptop zu Hause in den Netzen verfügbar zu machen. Von einer deutlichen Verbesserung der Bildqualität abgesehen wirkte man der Inflation der Bilder entgegen.

Buch im Bildschirm

Aber: »Unterwegs auf Instagram schauen, Nachrichten und die RSS-Feeds lesen, Twitter, Facebook, hin und wieder ein Spiel!« Die Entgegnung hierauf ist einfach: Ich nutze die Möglichkeiten tatsächlich selten, seit ich aufgehört habe, U-Bahn zu fahren. In Zügen habe ich meinen Laptop dabei und mindestens ein gebundenes Buch. Ich bin nur unsicher, weil ich fürchte, etwas zu verpassen. Nicht im Hinblick auf Information, sondern auf das Wissen, wie das alles funktioniert. Ich habe nicht die Motivation, mich der Technik zu entwöhnen, ich möchte nur weniger zerstreut leben, getrieben von Information. Abschalten. Lesen. Fotografieren. Am Blendenring drehen und dann, nach endlos erscheinender Zeit, den Auslöser zu drücken und nicht einen Lautstärkeknopf oder einen Bereich irgendwo auf dem Schirm.

Bilder

Metropol Garage

Hättest du mich heute Abend gefragt, wann der Schmerz begonnen hat, lautete meine Antwort vielleicht »irgendwann heute nachmittag« auf dem Weg zur Post oder in den kleinen Bioladen. Ich merkte, dass ich die Hand nicht mehr schmerzfrei schließen konnte. Nun ist es nicht so, dass ich mit derlei Malaisen öfter zu kämpfen habe oder meine linke Hand jemals Probleme bereitet hätte. Darum massierte ich auf dem Weg den Ring-, und Mittelfinger sowie die Handfläche, dehnte und hoffte, der Schmerz würde nachlassen in den nächsten Minuten. Die linke Hand, die ich brauche, um vorne die Kettenblätter zu wechseln. 

Ich habe keine Ahnung, wie lange ein Schock den Schmerz unterdrückt… drei Stunden vielleicht?

Chaos

Eben im Bad, als ich mir das T-Shirt ausziehe, entdecke ich blaue Flecken in meiner Leistengegend. Hättest du mich im richtigen Moment gefragt, ich hätte gesagt »ich weiß von nichts«, ich bin selber erstaunt. Die Hand auflegend, den stechenden Schmerz in der rechten Seite spürend sehe ich die Bilder vor mir, die ich über die Stunden verdrängte: Die grüne Ampel, die zweispurige Straße nahe der Boulangerie – meinem Ziel –, der Bremsreflex in der linken Hand, dosiert, dass sich das Hinterrad aufbäumt, ich mich aber nicht überschlage und doch das Rad nicht mehr richtig unter Kontrolle bekomme, den Lenker dafür in die Leistengegend und das Abfangen auf dem Asphalt – schmerzfrei in jenem Moment. Die haltenden Autos und Radler, mein Handzeichen, dass alles okay ist, das Sammeln, Aufsteigen, das Weiterfahren.

Der Zeitraum, in dem diese Bilder entstanden, scheint mir lang, wie der Zeitraum den ich brauchte, die blauen Flecken über dem rechten Hüftgelenk in Zusammenhang zu bringen mit den Geschehnissen von heute morgen. Sekunden später: mit den Schmerzen in der linken Hand. Das ist der Preis, den man zahlt, einhändig zu fahren, die Kamera in der Rechten um das Foto umgehend in die sozialen Netze zu laden, sofort, keine Minute verlieren. Allein, der Preis war nicht zu hoch:

Metropol Garage

Eldermann

Ich hatte mir vor einiger Zeit vorgenommen, Gedanken, die mir in den Sinn kommen, sofort in mein Notizbuch zu schreiben, weil sonst passiert, was gerade wieder passiert: Ich habe gestern Abend auf dem Weg ins Bett einige Fragmente gefunden, die ich in einem Text berücksichtigen wollte. Jetzt sitze ich in diesem Café, während draußen Paare mit Sekt anstoßen und bekomme keinen der Gedanken von gestern zu fassen.

Kaffeehaus

Ich erinnere mich an eine Zeit, in der es ihm besser ging. Stumme Zeugen dieser Tage sind vier Anzüge, die ich mich nicht traue zu tragen, weil die S. der Meinung ist, sie säßen nicht gut. Sie fragt mich immer lachend, wie ich mir so etwas habe andrehen lassen, ob ich denn keine Augen im Kopf hatte, damals, bevor wir uns trafen. Die vier Anzüge haben einen klassischen Schnitt und Muster, die an weiter entfernte Zeiten erinnern als an das Kaufdatum, dass einige Jahre zurückliegt.

Der Fluss

Als er einen blauen Anzug zwischen unzähligen anderen entdeckte, hob er an zu einer Geschichte, die begann mit »Damals in Hamburg«. Die Details erinnere ich nicht mehr, aber einige wenige Szenen seiner bildhaften Schilderung sind mir im Kopf geblieben über die Jahre. Wenn ich mich hineinversetze in diese Zeit, mich an seiner Statt in diesem Gebäude stehen sehe – so das anhand der wenigen Details, die er damals verriet, überhaupt möglich ist – dann sehe ich einen großen weitläufigen Raum, der dennoch still liegt: dicke Teppiche schlucken den Schall und am anderen Ende des Raums der Eingangstür gegenüber, durch die man dieses Büro betritt, steht ein alter Schreibtisch, wie ich ihn heute gern in der Wohnung hätte. Vielleicht sitzt hinter dem Schreibtisch ein älterer Herr, ergraut und wie man sich einen, der Verantwortung trägt, eben so vorstellt. Auf einer der beiden Längsseiten des Raumes gibt es mehrere bodentiefe Fenster, auf der anderen Seite, der rechten von der Tür aus gesehen, bedecken Gobelins die holzvertäfelten Wände. Zu dieser Stimmung, die einen ergreift, wenn man sich an diesem Ort wähnt, passt durchaus ein blauer Anzug mit goldenen Knöpfen, in dem man sich als junger Reeder fühlt.

Isarschwelle

Ich weiß nicht mehr, ob die drei anderen Anzüge eine vergleichbare Geschichte besitzen. Ich weiß nur, dass ich keinen der vier tragen werde in absehbarer Zeit. Vielleicht probiere ich sie morgen noch einmal an, heimlich wenn die S. nicht zu Hause ist, um ihren Blicken, ihrem Staunen zu entgehen. Ich verstehe die Unbekümmertheit, mit der sie vorschlägt, ich solle die Anzüge spenden. Sie war schließlich nie in einem Vorstandsbüro, sie ist nie versunken in den Teppichen dort und in der feierlichen Ruhe, in die ein blauer Anzug gut passt mit goldenen Knöpfen.

Zwei Bilder

Durch das kleine Fenster in der Bordüre, die die Kassettendecks zur Wand hin abschließt, fällt – wenn die Sonne richtig steht – zu einem bestimmten Zeitpunkt am Tag ein sonderbar harmonisches Licht gleichsam warm und deutlich auf das Gemälde in der Ecke des Raums. Auf diesem Gemälde sieht man zunächst nur eine italienische Landschaft, einen angedeuteten See und einige Berge am Horizont; ein harmonisches Ensemble – zu harmonisch, wie die Kritiker schreiben. Einen Satz, den man lächerlich finden kann, wie »du bist einfach zu nett für eine Beziehung«, den immer die schönsten Mädchen als dümmste Ausrede benutzten in meiner Jugend. Einen Satz, den man wohl auch ernst nehmen muss, wenn einer ihn sagt, nämlich ausgerechnet das wunderschöne Mädchen, das man gerne mit an diesem See haben würde, wo immer der See einmal liegt.

Nicolaes Berchem - Italienische Abendlandschaft

Doch S. zieht das Stadtleben vor. Einer ihrer Gründe ist das Gesetzte, sind die Beziehungen, die man auf einem Dorf haben oder aufbauen muss, ist das Einpassen in die Struktur. Dass die Gesellschaft in bayerischen Dörfern vom Filz tatsächlich durchtränkt ist, kann man dieser Tage in allen Zeitungen nachlesen. Ich nehme das zwar zur Kenntnis, wundere mich aber selbst über meine Regungslosigkeit. Es ist ja nicht so, dass ich nicht vom Land komme, nur eben nicht vom bayerischen, wo man die Christsozialen und deren Seilschaften von Klein auf mitbekommt und sich an die Realität über Jahre hinweg gewöhnen konnte. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass der Vorsteher des Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin, seinen Neffen und Kindern Türen geöffnet, vielleicht eine Ferienarbeit besorgt hat und Bekannten von Gelegenheiten erzählte, die sich ergaben und von denen er in seiner Funktion als Dorfvorsteher frühzeitig in Kenntnis gelang. Ich glaube, dass das alles recht normal ist und durchweg geduldet, wenn man die Staatskasse nicht dafür verwendet, überhöhte Löhne auf Familienkonten zu zahlen.

Doch scheint mir all das ein geringer Preis, eine Stadt zu verlassen, die zwei- und dreispurige Straßen durchziehen, die sich selbst Radlhauptstadt nennt und ein neues unterirdisches Parkhaus (für Autos) bauen möchte, die im Winter die Radwege am Stadtrand nicht mehr streut.

Pieter de Bloot - Bauernbelustigung

Nun bin ich mir sicher, dass auch Prien, Gmund, Tutzing, Inning und Herrsching im Winter die Radwege nicht streuen. Doch ist es so, dass ich einige schöne Momente erinnere, die alle gemein haben, nicht in Städten zu spielen. Sofort fällt mir ein Nachmittag ein, an dem ich auf einen See hinabsehe von einem grasbewachsenen Hügel und den Weg versperren weder Zäune noch „Den Rasen nicht betreten!“-Schilder wie vor unserem Haus. Und Liebste, du weißt, wie ihr im Dezember in den Wald zogt eine Tanne zu schlagen. Auch aus meiner Kindheit zeigt eine Erinnerung den guten alten Bernersennenhund vor den Hörnerschlitten gespannt, die Tanne obenauf und mein Vater und ich hintenan auf dem Weg zu unserem alten am Waldrand gelegenen Haus.

Lass uns den Wohnort einmal nach dem Bilderrahmen entscheiden.