Die Wahl

Den Wahlsonntag habe ich irgendwo zwischen München und Pfaffenhofen verbracht, möglichst weit weg vom Ausnahmezustand, der München zur Zeit heimsucht. Ich dachte mir, wenn mich schon ein Betrunkener überfährt, möchte ich wenigstens gut aussehen, zog also die neuen Schuhe mit den Weltmeisterstreifen an und putzte das Rad heraus, das mich neulich noch nach Italien trug. Die Schuhe waren Belohnung dafür.

Sidi Wire Carbon Vernice Rennradschuh - Edition Tony Martin

Nächste Woche fahre ich wieder in Italien, diesmal mit dem Nachtzug nach Rom. Weil sie auf dem Ausnahmezustand ein italienisches Wochenende haben, bekamen wir gerade noch das letzte freie Abteil. Die Dame am Schalter schaute mich bei der Buchung verständnisvoll an, sagte, sie würde auch gern in den Süden flüchten in Wochen wie diesen, denn viele Menschen am Bahnhof seinen in einem bedenklichen Zustand. Drei Jahre sei sie jetzt hier, drei Jahre hat sie sich herauswinden können aus dem Gruppenausflug ins Bierzelt. Ich weiß was sie meint.

Kuchen

Das Dachauer Hinterland, das mich durch den Sonntag begleitete, ist weder Italien noch hübsch. Langweilig würde es nicht treffen, doch ich habe mich zweimal beim Gedanken erwischt, wie es wohl ist, durch die Gegend zu fahren, in der ich aufgewachsen bin. Im Süden sind die Farben schöner, das Grün intensiver und jenseits des Alpenhauptkamms hat die Sonne ein anderes Licht. Aber es reicht, nach Süden die Stadt zu verlassen, der Norden hat mich nicht überzeugt.

Dachauer Hinterland

Am Wochenende habe ich außerdem das – noch immer habe ich keinen guten Namen – Alltagsfahrrad (das klingt viel zu unspektakulär!) umgebaut: Endlich ein Rennlenker, endlich Bremsschalthebel wie an den Rennrädern. Die Stunden im Keller sind beinahe so schön wie die Fahrt. Es ist: Mit den Händen zu schaffen, Probleme zu lösen. Der Vorgang dabei ähnelt sich stets: Man tritt zurück, kratzt sich am Kinn und dann fällt einem eines der anderen Fahrräder oder das alte Holzkisterl ein, das genau dieses Teil beherbergt, dass man gerade sucht. Man braucht nur ein bisschen Spaß am Probieren, etwas Zeit und eine ausreichende Anzahl anderer Räder.

Wir haben einen guten Ruf in schlechten Kreisen

Als sie mich gestern Abend anlachte und vorschlug, wir könnten doch um sechs Uhr aufstehen und gemeinsam Radfahren vor dem erwarteten Regen, drehte ich mich auf die andere Seite und schlief aus Protest ein. Als ich um acht Uhr aufwachte und zu den Rädern torkelte, benommen von einem wirklich seltsamen Traum, der um diese Uhrzeit im Blog nicht beschrieben werden darf, fiel mir diese lächerliche Kleinigkeit auf: Dieses Fahrrad trug noch keine Kette.

Wartehaus vor Nichts

Es war unklar, wann ich zurückkommen würde. Die Erfahrung hat gelehrt, mich nicht nach den ersten Ausfahrten auf neuen Rädern zu verabreden. Als ich letztes Jahr mit dem anderen Colnago aus Italien zurückkehrte, lernte ich in den darauffolgenden Wochen südländische Gelassenheit: Ich bin kilometerweit in Radschuhen gelaufen, Strecken, die sämtliche Verabredungen an diesen Tagen ruiniert haben; wegen des Pedals, das sich am Nordfriedhof aus der Kurbel drehte und das Gewinde mit ihm, auch wegen der Speiche, die in einem kleinen Dorf im Süden brach fernab jeder Bahn. Es ist wie mit einem alten italienischen Auto, sagt D., man muss solche Situationen als Gelegenheit sehen, in der sich das Leben ändern kann. Man darf nur eben nicht ankommen müssen.

Colnago C50

Ich habe in den letzten Tagen oft über den Rahmen gestrichen, ich habe ihn geputzt und gepflegt, ich habe neue Schläuche und alte Mäntel auf die Felgen gezogen, ich habe heute morgen eine fabrikneue Kette montiert. Und schließlich bin ich aufgebrochen zur einer kleinen und langsamen Runde, um ein Gefühl zu bekommen für den Rahmen, für die Geräusche, die dieses Rad macht. Die erste Fahrt ist immer etwas Besonderes, man fährt sie ohne Musik und vergleichsweise langsam, damit man das Surren des Rahmens gut hört und Geräusche, die einem zeigen, wenn etwas nicht stimmt. Mit jedem Kilometer wird die Liste der Dinge länger, um die man sich in den darauffolgenden Tagen dann kümmert. An diesem Rad gibt es verschiedene Teile, die ich im Winter ersetze: Der Lenker und der Vorbau sind schrecklich (doch die neuen Teile liegen schon hier), die Schaltbremshebel aus Aluminium sind nett, aber andere aus Carbon passen nun einmal besser. Der Umwerfer und das Schaltwerk, und schließlich diese Dreifachkurbel. Ich bitte sie: Dreifachkurbeln sind für alte Männer, die den Jaufenpass hinaufkeuchen wollen. 

FSA K-Wing

Ich habe erwartet, dass ich heute wieder schiebe. Natürlich gab es ein, zwei Details, die nicht optimal liefen, wir lernen uns schließlich gerade erst kennen. Aber ich kam an, wir kamen durch. Allein eines macht mir noch Sorgen: Die Farbgebung des Rahmens, diese orangenen Streifen. Ich besitze keine Schuhe, ich besitze keine passenden Handschuhe, die mit diesem Detail harmonieren.

– t: Thees Uhlmann – Kaffee & Wein

The Funerals

Heute vor einer Woche saß ich in einem Bus, der mit uns über die Passstraßen flog, die ich wenige Tage zuvor mit dem Rad in entgegengesetzter Richtung überquerte. Hinter mir auf der Bank saß ein Mädchen, das ihren neuen Freund in einem kleinen italienischen Dorf besuchte und nun zurück nach München fuhr, und hinter ihr standen vier Fahrräder. Man sucht sich seine Beschäftigung für die dunklen Tage, die vielleicht bereits angebrochen sind. 

Briefumschlag

Hier kommen Pakete an, die auf den Winter einstimmen: Die CD aus Italien mit den venezianischen Liedern, die natürlich ebenso gut in den Sommer passt, verstreut ihre angenehme Atmosphäre an Regentagen wie diesen. Neben mir knackt der Tee auf dem Stövchen, während von der anderen Raumseite ein Horn herüberweht. So kann ich stundenlang sitzen und schreiben, eine bleierne Müdigkeit legt sich langsam über mich, zwei Räume weiter wartet das dicke gebundene Buch, mich mitzunehmen an die Elbmündung in vergangene Zeiten: Siegfried Lenz‘ Deutschstunde.

Venezianische CD

So sitze ich dem leeren Ohrensessel vis-à-vis gegenüber auf den alten Cocktailstühlen und warte, bis sich der vertraute Schlüssel im Zylinder dreht. Denn an Regentagen wie diesen ist man nicht gerne allein, an Regentagen wie diesen tut der Atem eines anderen gut. Man könnte meinen, der Herbst kommt und mit ihm der Winter.

Und plötzlich, schlagartig, seufzt der italienische Rahmen laut auf, weil der Schlauch im Hinterrad birst. So bleibt man wach dieser Tage.

Hinter all diesen Fenstern …

Zwei Männer in Lycra auf dem Weg nach Meran – #transalp13

Der schwarze Adler in Sterzing hatte nicht nur WLAN in der Lobby, sondern auch phantastisches Frühstück. Ich weiß nicht mehr, ob wir wirklich lange gefrühstückt haben oder ob es mir nur so lang vorkam, und wir hatten beide unsere Gründe, das Frühstück in die Länge zu ziehen. Ich hatte vor der Reise deutlich mehr Respekt vor der Brennerstraße, weil ich – egal wann ich über den Pass fuhr – diesen furchtbar hässlich empfand. Vom Jaufenpass wusste ich hingegen, dass er durchaus schön ist, dafür deutlich länger. Hinter dem letzten Kreisverkehr in der Via Giovo wünschten wir uns gutes Gelingen und begannen die fünfzehn Kilometer lange Steigung auf den Jaufenpass.

Jaufenpass

Jaufenpass

Ich hatte mir fest vorgenommen zu behalten, über was ich die anderthalb Stunden auf der Straße hinauf vor mich hin dachte und habe das folgerichtig vergessen.

Jaufenpass

Jaufenpass

Was ich bergab dachte – die ersten Kilometer, bevor wir in eine Straßensperre fuhren, weil ein Rettungshelikopter landete – lässt sich nicht ganz gut beschreiben, nur der Gedanke, als mich eine Windböe auf der Südseite des Passes bei etwa 50 km/h einen halben Meter versetzte. So fuhren wir ab in den Hochsommer, irgendwann am Fuße des Berges gab das GPS-Gerät seinen Geist auf. Und was ich die ganze Zeit dachte: Das soll alles gewesen sein?

Jaufenpass

Jaufenpass

Wir saßen am Tag vor der Abreise, den wir frei hatten, in verschiedenen Cafés, schauten auf die umliegenden Berge und zeigten uns Gipfel mit den Worten »Dort kann man bestimmt auch hinauf fahren«. Denn, wenn man ehrlich ist, da wäre mehr möglich gewesen: Die Tour in zwei Tagen vielleicht, deutlich schneller oder möglicherweise noch der ein oder andere Pass. Aber man braucht ja noch Ziele für morgen.

Meran

Meran

Zurück mit einem Michael-Schumacher-Verschnitt von Busfahrer, der uns in vier Stunden von Meran nach München brachte: Zwei Männer in Lycra und vier Räder hinter dem Sitz.

Aquila Nera – #transalp13

Das hatte ich mir anders vorgestellt, nämlich folgendermaßen: Wir fahren abends in die Stadt ein, die uns empfängt wie verlorene Söhne. Später – nach dem Essen – sitzen wir entweder im Bett oder in der Lobby neben dem WLAN und schreiben in unsere Blogs, welche Absurditäten, welche Bilder und Gemeinheiten die zurückliegende Strecke bereithielt.

Frühstück am Tegernsee

Reifenwechsel

Die Sache mit der Triumphfahrt gestern verlief anders: Obwohl wir einen schönen geteerten (! – hier sollte sich die selbstgerechte Radlhauptstadt ein Beispiel nehmen) Radweg neben dem Inn fanden, der uns bis zum ersten Etappenziel brachte, bleibt Hall in Tirol eben Hall in Tirol: Auf den ersten Blick eine Wildweststadt, an den Rändern einer Straße errichtet, bestenfalls Durchgangsstadt, und von eben jener Straße aus gesehen eine furchtbar hässliche. Wir hatten am Ende dieser Staubpromenade unser Quartier, da uns am Morgen das gebuchte Hotel kurzfristig absagte und dann ist man ja nicht sonderlich wählerisch, weil hinter Hall die Auffahrt zur Ellbögenstrecke und zum Brenner beginnt, es also ziemlich gute Gründe gibt, genau diese nicht mehr fahren zu wollen nach einem Tag im Sattel. Und dort war sogar ein funktionierender Internetzugang. Draußen. Auf dem Bürgersteig. Aber da waren eben auch die einhundertsechzig Kilometer seit München und die zehn Kilo Gepäck auf dem Rücken. Und dann waren da eben diese drei Betten. Naja, und so kam das dann…

Achensee

Café

Gestern hat Don drüben bereits über den ersten Tag gebloggt (es gibt dort sogar ein Foto von meinen Beinen!), heute liegt er im Bett und ich in der Lobby in einem zu großen Ohrensessel. Das Internet ist langsam, aber immerhin da, und wäre es nicht gelogen, würde ich schreiben: wie wir. 

Räder

Der erste Anstieg nach dem Frühstück, die Rampe zur Ellbögenstrecke, war rückblickend die schlimmste Steigung des Tages. Von der Ellbögenstrecke wusste ich, wie schön sie ist, doch in meiner automobilen Erinnerung erschien sie mir deutlich länger als heute auf dem Rad. Vom Brenner erinnerte ich nur seine Trostlosigkeit; es ist der hässlichste Pass, den ich kenne. Und schön war er dann nicht, doch irgendwann sind einem beim Aufstieg die Autos egal, die sich heute bereits kilometerweit vor dem Sattel stauten.

Anstieg

Brenner

Hat man die Kuppe und die Outlet-Geschäfte endlich passiert und hält sich nach einem Kilometer rechts, kommt man auf die alte Bahntrasse, die Italien nach dem Rückbau der alten Gleise in einen geteerten (! – München, nimm das!) Radweg umgebaut hat, auf dem man mit Rückenwind ins Tal rollen kann: Vorbei an zerfallenden Bahnwärterhäuschen, durch zwei beleuchtete Eisenbahntunnel, beinahe hinab bis nach Sterzing. Und weil mit der Buchung alles geklappt hat, schlafen wir heute Nacht im ersten Hause am Platz.

Tunnel auf der alten Bahnstrecke

Kuchen

Sterzing

Morgen dann geht es hinauf auf den Jaufenpass, direkt nach dem Frühstück, auf einen Apfelstrudel am Gipfel, und hinab nach Meran. Zeitnah zu lesen/zu schauen drüben im Rebellmarkt, hier auf den Gipfeln oder eben weiter bei Twitter.

#transalp13

Es muss einem wie ein Sieg vorkommen. Und obwohl ich noch diesseits des Berges stehe, fühlt sich allein hier zu stehen bereits wie ein Sieg an; das letzte Mal hatten wir zwar die Idee, doch kurz vor der Abfahrt mussten wir die Sache verschieben. Es geht übermorgen los – das Wetter scheint mitzuspielen – und in vier Tagen sitzen wir zwischen Weinbergen, auf der Suche nach WLAN, unsere Gedanken und Fotos zu bloggen. Wir haben die Qual noch vor uns; und wenn ich in dieser Zeit nachts nicht schlafe, sehe ich den weißen Lenker vor meinen Augen sich rhythmisch auf und ab bewegen, begleitet von meinem starkem Atem als Sound.

Kurbel

Während mich die Regelmäßigkeit dieses Atems wieder schläfrig macht, denke ich darüber nach, wo man seine Spuren hinterlässt. Ich habe einen Freund, der dieser Welt seinen Stempel aufdrücken will, der auf der Suche ist nach der nächsten großen Idee und der vielleicht irgendwann enttäuscht sterben oder Erfolg haben und mich später zu einem Tee einladen und sagen wird »doch«.

Antrieb

Wenn ich mich täglich einlogge in meinen Computer, sehe ich noch Fragmente von damals: Drüben, im alten Chat, in dem längst keiner mehr spricht, sind manche der alten Handles noch online und von manchen kennt man den Namen des Menschen dahinter noch nicht. Doch habe ich einige kennengelernt: Ich bin nicht oft in Wien, aber falls doch, treffe ich W., der mir einst den Bräunerhof zeigte, den Thomas Bernhard Zeit seines Lebens besuchte. Oder T., der früher in Osnabrück wohnte und kurz nachdem ich die kleine Stadt verließ, seine neue Stelle im Rechenzentrum begann. Wir haben uns um nur zwei Monate verpasst und darüber gelacht, als ich letztens in seinem Büro stand. M., den ich länger kenne als er seinen Ex-Freund und J., mit dem ich einmal zusammengelebt habe.

Bremse

Irgendwer sagte »damals war das Internet kleiner« und dort zu sein war etwas Besonderes. Das ist mir verloren gegangen, es ist normal geworden, es gibt nicht mehr die Eingeschworenheit einer Minderheit, zu der ich damals gehörte. Es ist gut, dass die Zeiten sich ändern, doch Freunde habe ich in diesem Medium danach selten gefunden.

Kurbel

Damals und doch in einer ganz anderen Zeit las ich von D., zuerst ein Buch, dann die Texte, die er ins Internet schrieb. Übermorgen radeln wir der Gebirgskette entgegen, in vier Tagen sitzen wir in den Weinbergen, im Herbst in Meran, und werden dorthin – auf dem ersten Gipfel – in Lachen ausbrechen, hysterisch verzweifelt, weil wir wissen, zwischen uns und Meran liegt ein weiterer Pass. Und er wird auf seinen Gepäckträger zeigen und lachen.

Wäre ich theatralisch: Es wird nur Blut geben, den Schweiß und die Berge.
Ich werde darüber schreiben. Hier und drüben bei Twitter.

Du bist ein braves Mädchen, Happiness

Das WLAN in diesem Café, das J. mir vor kurzem erst zeigte, hat hollerschorle als Passwort. Ich halte das für einen guten Grund, regelmäßig hierher zu kommen. Tritt man in durch die unscheinbare Tür in den kleinen Innenraum, stehen links in einer alten Glasvitrine die selbstgebackenen Kuchen, dahinter der Theke, in der altes Porzellan und Glas in einem abgebeizten Schrank auf seinen Einsatz wartet. Rechts stehen vier Tische und ein alter Ohrensessel, in dem ich gewöhnlich sitze. Aus diesem hat man die Eingangstür gut im Blick, genau wie die Kuchen. 

Hoover & Floyd - Theke

Langsam kommen mir Tage aus der Vergangenheit in Erinnerung: Ich bin auf dem Land aufgewachsen; Immer wenn ich einen Satz damit einleite, beginnt das wunderschöne Mädchen zu lachen – als stünden wir in einem Wettbewerb, wessen Dorf weniger Einwohner hatte und weniger Straßen, denn auch sie kommt aus einem (bayerischen) Dorf. Es gibt zwei Menschen, die ich um ihre Herkunft beneide: Sie, denn Dorf ist ein Euphemismus für die alte Mühle im Wald, in der sie ihre Kindheit verbrachte, und T., die ihre Jugend in einem Wasserturm an der Ostsee erlebte. Auf dem Weg an einen der Seen (ich habe vergessen an welchen) kam ich in ein kleines Dorf und stand irgendwann vor einem Turm, in dessen Garten ein alter Mann lag mit einem vergilbten Buch auf dem Bauch. Dieses Bild habe ich seither im Sinn, wenn mich jemand fragt, wie ich später gern einmal wohnen würde: Manchmal seufze ich in den Verkehrslärm hinein, in dem ich ungehört bleibe, die Worte »Wäre das schön in einem Dorf unten am See!«

Hoover & Floyd - Bild

Ich bin auf dem Land aufgewachsen und wie ich bis zu meinem sechzehnten Geburtstag täglich den Bus nutzte, besaß und benutzte ich ab diesem Tag verbrennungsmotorbetriebene Fortbewegungsmittel, wie das auf dem Land nun einmal notwendigerweise üblich ist. In den ersten Jahren hatte ich die Tankkarte meines Vaters, mit der ich ihm verschiedene Löcher ins Konto fuhr. Ich kannte nach zwei Jahren jede Straße im Umkreis der halben Tankreichweite meines Motorrads; aus diesen Tagen stammt die Erfahrung, die sich später in Situationen bezahlt machte, in denen andere böse Unfälle hatten. Dass wir damals fuhren wie Henker, mehr als einmal Glück hatten und statistisch gesehen vielleicht nicht mehr hier sitzen dürften, erzähle ich ihr nicht. Es muss reichen, wenn ich sage: »Ich bin aufgewachsen wie du!«

Hoover & Floyd - Kaffee

Ich erinnere mich an Landstraßen, die durch grüne Hügellandschaften mäanderten und an deren Ende immer ein Freund wohnte: Nur wenige, mit denen man als Dorfkind damals zu tun hatte, stammten zufällig aus dem gleichen Dorf wie man selbst. Ich erinnere mich an Tage, die ich nur deshalb auf der Landstraße verbrachte, weil man Musik besser und lauter im Auto hören konnte. Ein stummer Zeuge aus diesen Tagen: Heute höre ich auf dem rechten Ohr schlechter als links.

Malerwinkel

Als vor drei Tagen ein Foto aus Südtirol von einem meiner Freunde in einem sozialen Netzwerk auftauchte, fragte ich, ob er in zwei Wochen noch in Italien sei. Er verneinte und vier Stunden später saßen wir uns bei einem Kaffee gegenüber. »Das sind die Vorteile«, sagt sie, »vom Leben in einer Stadt.« Ich habe zweimal nachfragen müssen gestern auf unserem Balkon, weil sie rechts von mir saß und der Sightseeing-Bus vor dem Museum hielt, als sie mir das triumphierend erzählte.

Himmelfahrt

Ich habe mir frei genommen. Nicht den vergangenen Donnerstag, der hier sowieso Feiertag ist, sondern die ersten beiden Tage der Woche. Die nächsten einhundertfünfzig Wochen lang.

Alpen

Ich weiß nicht, was ich mit der gewonnenen Zeit anfangen werde; es gibt durchaus einige Verpflichtungen, deren Umfang ich noch nicht kenne. Außerdem habe ich ein paar Ideen, die bisher auf der Strecke geblieben sind aus verschiedenen Gründen. Und es gibt (aus der Erfahrung heraus) stets neue Optionen, wenn man seine Situation ändert und das öffentlich macht. Jedem, dem ich von meiner Entscheidung erzähle, fragt sofort, was ich mit der Freizeit zu tun gedenke und ist einigermaßen enttäuscht, wenn ich ihm sage, dass ich erst einmal nachdenken muss. So phrasenhaft diese Antwort klingt, so ernst ist sie gemeint.

Bäume

Ich habe vor vielen Jahren in der kleinen Stadt oft im Café gesessen, das 1969 im Hinterhof einer Buchhandlung gegründet wurde. Das war zu einer Zeit, in der man stets sicher sein konnte, dass irgendwer zum Reden dort saß; Arbeitskollegen vielleicht, jemand aus dem literarischen Umfeld oder eine, die man von Freunden her kannte. Oft saß und diskutierte ich dort, bei Milchkaffee oder Mate am Fluss, mit der T. und aus dieser Zeit sind mir einige Diskussionen in lebhafter Erinnerung. Später war ich auch mit dem wunderschönen Mädchen dort, doch das war kurz bevor sie die Stadt verließ und ich dann häufiger in Zügen saß als am Ufer des Flusses. Solche Diskussionen sind selten geworden.

Dortsilhouette

Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich weniger Zeit habe als im Sommer 2007 oder damit, dass ich weniger Menschen hier kenne (und vielleicht auch nicht den richtigen Ort), um solche Diskussionen zu führen. Heute sitze ich dafür auf dem Rennrad und wälze meine Gedanken. Aber das ist wie mit jemandem reden, er alle Gedanken schon kennt. Einerseits. Andererseits kommt man natürlich auf neue Ideen, wenn man für sich ist und der italienische Rahmen unter einem monoton surrt. Am Donnerstag zum Beispiel, auf einer Fahrt, die ich mir gerne erspart hätte, die jedoch wegen mehrerer überfüllter Züge vor mir lag, weil man uns den Einstieg verwehrte. Denn manche Ideen gewinnen erst an Gestalt, wenn man im Dunkeln durch Schwärme von Glühwürmchen radelt.

Mähdrescher und Mond

Strophe & Gesang

Ein Zug ist der Beginn und ist das Ende aller meiner Reisen, die enden oder beginnen in der kleinen Stadt an dem Fluss. »Meine Liebe«, habe ich ihr zugeraunt, als der braune Lederkoffer über das Kopfsteinpflaster ratterte gen den beiden Menschen, die vor dem Café auf mich warten, »ich habe dich vermisst«.

Die Sommermädchen wechseln lachend die Straßen,
sie wissen, wie schön sie sind

Der erste Kaffee hinter den weiten Fensterfronten; wir haben uns nie vorher getroffen. Der Wind mischt sich in unsere Sätze, eine alte Tür schlägt an die Wand und J. erzählt vom anderen Ende des Landes, wir beide vom vergangenen Abend und er mahnt zur Besonnenheit, während er sich ein zweites Getränk bestellt. Ich deute seine spätere Nachricht als Dank für die Gewissheit, dass wir uns auch diesseits verstehen.

Dachstuhl

Auf dem Dach, in dem wir während der vergangenen Tage zwanzigmal saßen, erzähle ich, wie angenehm ich es finde: Wir erleben volle Stunden über den Giebeln gegenüber dem Rathaus, auf gleicher Höhe des blechernen Vogels, der stündlich seinen Unmut herausschreit und mit verrosteten Stummelflügeln schlägt, während unter seinen Füßen Gevatter Tod seine Sanduhr rotiert und Justitia mit ihren Waagschalen klappert. Die Stunden fliegen dahin, wir fallen aus dieser Zeit; Die zwei, bei denen ich wohne, haben sich frei genommen für mich; wir ziehen nachts über die Dächer und tagsüber durch die Cafés, wir sitzen am Fluss und wir verlieben uns wieder. Wir erwarten nichts voneinander, wir lassen uns treiben durch eine der bestmöglichen Zeiten.

Mate und Kuchen

Ich habe ihr erzählt von einem Gefühl, das ich seit langem habe, aus jener Zeit, vor der ich das wunderschöne Mädchen traf: Ich bin überzeugt (ja: ich hoffe), man kann einhundert Menschen gleichzeitig lieben. Und sie weiß, dass ich sie meine. Und er weiß, ich meine ihn.

Vogel

»Danke«, hätte ich ihnen zuraunen sollen beim Abschied, in der letzten Umarmung, »dass es euch gibt, für die vergangenen Tage.« Im Zug fallen mir all diese Sätze ein, die ich zu sagen vergaß.

Zärtlich streich‘ ich durch dein Haar,
Du wachst auf, reibst dir den Schlaf aus deinen Augen,
willst wissen, wo ich so lang‘ war

t: Flowerpornoes – Strophe & Gesang

Ich bin der Welt abhanden gekommen

Der Weg ist immer der Weg nach Hause. Ich bin zum ersten Mal während der Sommermonate in dieser Wohnung, aus der eine kleine verwinkelte Treppe in einen Dachstuhl führt, in dem die Sonne durch alte Fenster und verschobene Dachziegel helle Flecken auf den Holzboden brennt. Ich verlaufe mich, werde durch Rufe korrigiert und irre durch Räume bis ich den Weg ins Sonnenlicht finde; auf das Dach des Hauses, verborgen hinter einer Zinne und doch direkt über dem Marktplatz.

Dachboden

Ich erzähle ihr später, wie kompliziert es in Bayern ist, weil man an den Almen schwierig vorbeikommt ohne eine Dampfnudel oder Kaiserschmarren zu essen. Doch auch hier haben wir den Vormittag essend verbracht; morgens vor zehn, als sie noch schlafen, mache ich eine Kanne schwarzen Tee. Dies war der einzige Moment, in dem ich merke, nicht mehr hier zu wohnen, sogar: nie hier gewohnt zu haben. Ich finde mich leidlich zurecht und irgendwann doch die Büchse aus Blech mit dem Tee. Dazu gibt es Pralinen und ein Stück Schokolade zartbitter.

Frühstück

Obwohl ich niemandem erzählt habe, wo ich die nächsten Tage verbringe, finden mich Jene, die suchen, an den typischen Orten, an die es mich zieht. Sie stoßen dazu, wir begrüßen uns kurz und sie bleiben vielleicht auf einen Kaffee. Das funktioniert noch so, wie die Gesellschaft meiner Jugend noch vor dem Internet funktionierte: Man muss sich nicht explizit verabreden, man geht einfach bei Freunden vorbei. Kein Whatsapp, kein Threema, keine eMail und kein Telefonat. Wer mich treffen will, trifft mich. Wer nicht, trifft mich nicht (oder bestenfalls auf der Straße). Und wer mich kennt, weiß, wo ich auf ihn warte.

Café am Grün/Roter Stern