Eine vermutlich ganz gute Sache

Ich wusste, sie würden kommen; weil ich es übertrieben habe, zu diesen Zeitpunkt übertrieben habe, vor allem wegen der fehlenden sechshundert Kilometer in den vorausgegangenen Wochen. Sie kamen, jedoch nicht bereits auf dem Weg hinaus aus der Stadt, nicht unten in den Auen beim Isarkanal, an dessen Ufer ich das letzte Gel mit dem Koffein zu mir nahm. Nicht einmal nach den Serpentinen hinter dem Kloster hinauf im Wald, vor denen ich mich (wie immer!) zur Besonnenheit mahnte, die ich (wie immer!) nach der zweiten Kehre vergaß. Am Ende werde ich fast eine Minute langsamer sein auf diesem Anstieg als im Mai vor zwei Jahren.

Kapelle irgendwie südlich von München

Lange bin ich nicht mehr am alten Ententeich gewesen mit dem verrotteten Steg. Ein Erpel taucht nach Essbarem, ob es der gleiche ist wie im letzten September? Vor drei Jahren habe ich hier angehalten und mich neben den Steg gesetzt, neben die beiden Enten, die in der Sonne schliefen. Sie blinzelten kurz hinüber und schlossen wieder die Augen, als sie wussten, ich würde den Abstand bewahren. Das ist etwas, das ich mir über die Jahre behielt. So fuhr ich vorbei, nur meine linke Hand verließ kurz den Lenker zum Gruß.

Arbeiter am Waldrand

Seit vier Wochen war ich nicht mehr im Büro, seit vier Wochen habe ich wieder mehr zu erzählen. Das fiel mir auf, als ich letztens bei M. saß und wir uns unterhielten. Vier Wochen, in denen ich mich mit Menschen unterhalte in Situationen, in denen ich vorher nie war. Wenn man sich treiben lässt und das Steuer dem Wind überlässt, erlebt man, was man sonst immer vermeidet. Nicht weil es schlecht ist, nur weil man es nicht kennt. Ich genieße diese Zeit wie den Kaffee in der Sonne wochentags zur besten Stunde in den Cafés dieser Stadt. Jetzt kann ich ihn mir leisten.

Ein guter Autofokus ist einiges Wert

Die Schmerzen kamen schließlich zehn Kilometer vor dem Ende der Fahrt zu einem Zeitpunkt, an dem ich nicht mit ihnen gerechnet habe. Als ich am Ende einer Unterführung aus dem Sattel ging, einen Jungen in meinem Alter zu überholen, fühlte es sich an, als würde jemand die Muskeln drückend quer zu meinem Oberschenkel bewegen. Ein Schmerz, wie damals auf dem Pausenhof der alten Schule, auf dem wir uns vormittags schlugen und quälten, um nachmittags gemeinsam im Baumhaus in der Krone der alten Eiche zu sitzen. Mit einem Blick auf unser Dorf, das vor uns lag und blinzelte, wir mögen den Abstand bitte bewahren.

A sad state

Ich bin in den letzten beiden Jahren den Großteil der Wochentage jeweils vierzig bis fünfzig Kilometer Fahrrad gefahren. In den letzten drei Wochen bin ich zehn Kilometer gefahren – insgesamt. Das ist nicht nicht anstrengend. Das auszuhalten ist Arbeit.

Jaguar E-Type

In diesen Tagen habe ich Freunde getroffen, erfolgreich, unterwegs und gestresst. Sie saßen vor mir, erzählten mir von den Berufen und verschmolzen etwas mit ihrem Hintergrund. Zehn Stunden arbeiten täglich, »mehr Ringe als Augen und die unterlaufen« (Kettcar). Alles bestens, man könne sich etwas leisten und sie meinten es wörtlich. Mit jedem Satz verschmolzen sie noch etwas mehr.

Kutsche

Ich habe die Sorge, mich in Teig zu verwandeln. Ein aufgeschwemmtes Gesicht, weiche Beine und einen Bauch, für den man eine Entschuldigung braucht. Schlimmstenfalls würde mir alles egal. Ich muss dringend einmal raus, »Ich bin wie diese Kügelchen, ich würde gern rollen, muss aber verharren, und bin damit nicht wirklich glücklich.«

Brei

Der ganz alte Mann und sein Hund

Aus dem Nebel winkt mir ein älterer Mann zum Anhalten. Er trägt dunkle Kleidung, sein Körper zeichnet sich vor dem schneebedeckten Hang des Kanals deutlich ab, meine Lampe zeigt an ihm vorbei in Richtung der im Nebel verschwindenden Straße. »Hund?«, ich entschuldige mich gestikulierend, meine Kopfhörer unter dem Fahrradhelm herausnehmend. Den dritten Satz verstehe ich endlich; er sucht seinen Hund, seit einer Stunde vielleicht, bei fünf Grad unter Null hier draußen zwischen dem Fluss und diesem Kanal.

Ladengeschäft

Den Hund sehe ich zehn Minuten später unsicher wartend an der alten Holztreppe hinauf auf die Brücke. Ich erinnere einen Freund, der sich immer wunderte, wie gut ich mit Hunden umgehen könne, die wir unterwegs trafen (dabei war es eher so, dass die Hunde selten wussten, wie ihnen geschah, bevor ich schmusend an ihrem Hals hing). Er hätte mich heute Abend sehen sollen, heute Nacht, dort draußen, dort unten am Fluss. Und später den Mann, seine Tränen und seinen Hund glücklich im Arm.

Ein ganz alter Mann und sein Hund. Ich mag diese Arten von Pärchen.

Good Night, and good luck.

Die Nachbarin zu unserer Linken hat mir davon erzählt. Ich weiß nicht mehr, ob wir uns im Treppenhaus begegnet sind oder sie mir durch die noch von der Türkette verschlossenen Tür entgegengeraunt hat: »Diese Frau ist letztens bei einem Unfall ums Leben gekommen.«

Don't trust people that don't trust anyone

Bestätigt hat das eine aus dem Nachbarhaus, die irgendwann bei uns klingelte, um ihre Wäsche, die noch auf unserem Wäscheständer hing, abzuholen. »Das war kein Unfall«, flüsterte sie, »diese Frau wurde ermordet.«

Jede Nacht.

t: Edward R. Murrow
b: Stuff no one told me

 

Told you so

Er so: »Tolle Hose!«
Ich so: »Das hat noch nie jemand zu mir gesagt, schon gar nicht auf einer Herrentoilette vor einem Pissoir.«
Er so: »Weißt Du, ich dachte mir, wir sehen uns eh nicht wieder. Dann kann ich es Dir auch sagen.« 

Mädchen auf Eis

Das neue Jahr fühlt sich gut an, was zurückliegt ist noch kompakt. Ich habe meine Vorsätze niemandem erzählt; ich habe heute morgen eine Stunde nachgedacht, im Keller, bei 9 Grad Celsius. Da war niemand der ablenkt, niemand der stört. Und natürlich gibt es auch Vorsätze, die ich schon lang vor mir hertrage oder im Kopf habe mit dem Attribut Man müsste endlich einmal.

Rollentraining im Keller

Der Jahreswechsel kommt wie gerufen. Hinter 2014 hat man lange schon einen Punkt setzen können, es war in Summe zu viel, zu durcheinander. Zu ungeordnet, zu wenig organisiert. Ich habe mich mir nicht entfremdet, ich war nur irritiert. Zeit, das zu ändern. Das Ende war schön.
In einem Jahr sehen wir uns wieder hier mit einer Bilanz. (Wenn ich es vergesse erinner’ mich dran!)

Breitcordcouchfahrer

Wahrscheinlich sollten die schneebedeckten Landschaften an uns vorbeifliegen, aber hier tröpfeln wir durch die weite Landschaft, sehen zugefrorene Autos am Bahnübergang warten und erahnen das Mädchen, das hinter dem Lenkrad ihre Hände reibt, um sie zu wärmen. Wir sind unterwegs nach Norden, nach Hamburg. Ich reise der Inspiration hinterher; wenn ich eine Hoffnung habe, sie zu finden, dann ist es in den nächsten vier Tagen dort oben auf dem Kongress.
Ich warte seit einer Stunde auf jemanden, der mir Bahnkaffee bringt.

An der Regattaanlage

Mit zwei weinenden Augen bin ich gefahren, so zerrissen war ich in den vergangen Jahren noch nie. Erstens wegen der anderen zu Hause, zweitens weil ich die 500-Kilometer-Challenge von Rapha nicht mitfahren kann: 500 Kilometer in den sechs Tagen zwischen dem Heiligen Abend und Silvester, 500 Kilometer draußen auf dem Rennrad im Schnee.
Sie nannte mich Breitcordcouchfahrer, weil ich zwar ein Rennrad kaufte mit dem Ziel, das auch bei Regen zu fahren, dann fiel mir jedoch auf, wie schön ich das Rad finde und dass man ihm den Regen und den Schlamm nicht unbedingt zumuten muss. Ein anderer nannte mich auf einer früheren Fahrt Papagei, weil die gelben Überschuhe mich aussehen ließen wie ein Hähnchen.

De Rosa AL+

Ich war vorgestern unterwegs. Es war kalt und ich habe mir die Überschuhe gespart.
Nie haben meine Füße dermaßen lange gebraucht, um aufzutauen und um aufzuhören zu schmerzen. 

Der Bucklige ist niemals satt

Dieses kleine Café in der ehemaligen Buchhandlung, die den Kampf gegen den Onlinehandel verloren hat, geizt nicht an Industriecharme: Keine Verkleidung versteckt die Rohre unter der Decke, eine komplette Reclam-Sammlung dient als Raumteiler und trennt eine Ecke mit Bücherregalen von vier wenig filigran gearbeiteten Holztischen, an denen Studenten vor Laptops und Papierstapeln sitzen. Ich lehne mit dem Rücken an einer der großen bodentiefen Scheiben, die den Raum zu zwei Seiten begrenzen und den Blick freigeben auf die vorbeilaufende Straße; ich habe die Füße auf einem Heizkörper und Patti Smith singt einen Song von Nirvana.

Prophecy

Ich habe ein Gefühl wie vor fast einem Jahr in der Lounge auf dem Chaos-Kongress. Nicht so laut vielleicht und etwas heller. Aber ich sitze hier und ich warte auf H. Außerdem habe ich festgestellt, dass ich glücklicher bin, wenn ich schreibe. Vielleicht also schreibe ich doch – was ich stets bestritt – aus therapeutischen Gründen.

Diejenigen welchen

Wir treffen uns gleich auf dem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt ein paar hundert Meter entfernt. Wir, das sind diejenigen aus unserer Arbeitsgruppe, die noch nicht genervt voneinander sind und denen es nichts ausmacht, sich noch einmal abends zu sehen.

Der Weihnachtsmarkt hat bis zwanzig Uhr geöffnet und wir haben Besuch.

Weißer Rauch

Wir, das sind diejenigen, die in Laufweite des Weihnachtsmarkts wohnen, die abends Besuch von Freunden haben jenseits der Grenzen. Die leiden und die sich nichts anmerken lassen.

Neues Jahr, neues Glück.

Coffee to stay

Ich habe den Kindle in die Ecke gelegt. Seit Tagen kommen wieder stapelweise Bücher bei mir an, bevor ich ein eBook kaufe, zahle ich zehn Euro mehr für die gebundene Ausgabe oder – wenn es nicht anders geht – die zwei Euro für das Taschenbuch. Und so reise ich doch wieder mit einer dedizierten Tasche für Bücher, die ganzen Vorteile von Hintergrundbeleuchtung und Gewicht der Bibliothek hinter mir lassend, denn das ist nicht, worum es geht.

Kindle Nook Sony Reader I say Hardwick this sure is an impressive library a cartoon by Jeffery Koterba

Es geht um das Gefühl, es geht um die Haptik. Einen Plastikkasten in der Hand zu halten und auf einen Bildschirm zu starren bleibt etwas anderes als die Maserung und der Geruch des teilweise Jahrzehnte alten Papiers, die sich von Buch zu Buch unterscheiden. Wie ich Notizen auch noch immer handschriftlich mache, weil ich mir einbilde, einmal durch den Stift auf das Papier gesetzt habe ich sie länger präsent im Gedächtnis als in einem lokalen Wiki auf meinem Computer. Auch hier bin und bleibe ich analog.

Schloss Trautmansdorff

Ich habe aufgehört, Coffee to go zu trinken. Vielleicht, weil ich die Zeit im Café brauche, meine Notizen zu sortieren, weil ich einen Freiraum brauche zum Lesen, in den ich mich bewusst begeben muss, weil ich die Bücher digital nicht mehr dabei habe. Sicher, weil die Abfallerzeugung durch die Kaffeebecher dumm ist. Wie vieles zur Zeit.

b: Jeffrey Koterba

Der traurige Monat

Ich hatte heute Nacht einen Traum, in dem wir alle auf einer Bühne standen, meine Arbeitskollegen und ich. Ich weiß nicht, welches Stück wir gaben und ich erinnere nicht, wer Hauptdarsteller war. Ich weiß allein ich war es nicht. Und ich erinnere mich, auf meinen Auftritt zu warten der sich dann verlor zwischen der Kantine und den Fluren des Hauses.

Ich dachte mir nichts dabei, als er von der Diagnose seiner Mutter erzählte. Ich dachte nichts dabei, als meine Mutter von meiner Großmutter sprach und ich dachte nichts, als ich sah, wie der Hund kollabierte hier auf der Wiese vorm Haus. Letztens, als die Sonne noch schien.

Vielleicht sollte ich aufmerksamer sein und auf die Regieanweisungen hören. Oder auf den Souffleur, wenn er empfiehlt, das Theaterstück endlich zu wechseln.

Das war ein schlimmer September.