Viola Tricolor

Da sind wir also am See. Heute vormittag haben wir die Stadt verlassen, weil es hier einen Schreiner gibt, der sich nach der Streichung der Fördergelder für ein Projekt, in dem er mit Jugendlichen alte Möbel restauriert und wieder verkauft hat, selbständig machte und nun an der Hauptstraße im Erdgeschoss seines Hauses das gleiche macht wie vorher, nur eben ohne Jugendliche. Das alte Projekt war natürlich nicht rentabel und wahrscheinlich vermochte niemand seinen Erfolg zu bewerten, ein Preisschild an ein soziales Programm zu heften. Er sagt nur: »Manche haben das Besserwissen eben studiert«. Dann raucht er in der Tür.

Vitrine

Im Erdgeschoss finden wir nicht, was wir suchen, doch er erwähnt eine Scheune vor den Toren des Orts, die ebenfalls ihm gehört und wo weitere Möbel – teilweise unrestauriert – stehen. Weil er Zeit hat, bietet er an, dass wir uns nach Geschäftsschluss dort treffen und um kurz nach zwei heute Mittag stehen wir dort. Er ist nur zwei Minuten früher angekommen und räumt noch Dinge aus seinem Fünfzehnhunderter Fiat, den er seit seinen Lehrjahren fährt. »Seit fast vierzig Jahren« sagt er, lacht und öffnet die Scheune.

Uhr

Kuchen

Und so kamen wir noch zu unserem Schrank, der jetzt in jenem Auto liegt, mit dem die Damen in die Oper gefahren sind. Ich stattdessen sitze auf dem Balkon, esse zu viel Kuchen und schaue hinüber zur Kampenwand. Es ist wie nach Hause kommen, es gibt schlimmere Tage als diesen und es gibt furchtbarere Menschen als ihn. Hier kommt alles zusammen, der Ort und der See, sie meinen es gut.

Totes Humankapital ohne Rendite

In letzter Zeit ist mir häufiger aufgefallen, wie mittelmäßig viele Leute sind. Damit meine nicht, dass sie mental auf einer fragwürdigen intellektuellen Stufe stehen oder von der Veranlagung her nicht in der Lage sind, Dinge zu verstehen; ich rede davon, dass ihnen Details nicht wichtig sind, die überall auftauchen: In ihren täglichen Handlungen, ihrer Rede, ihrem Verhalten, in den Produkten, die sie erzeugen. Ich rede von einer Eigenschaft, die damals im Bewerbungsgespräch bei einer der großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften als Stärke präsentiert wurde: Pragmatismus. Mach nicht zuviel (es reicht, wenn der Kunde nicht mault)!

Ein Beispiel erlebte ich im Rahmen der Europawahl vor wenigen Wochen. Ich zog Italien dem deutschen Wetter vor und habe Briefwahlunterlagen bestellt. Diese bestanden aus zwei Formularen und zwei farbigen Umschlägen. Die Formulare passten nicht in den Umschlag.

Wahlumschlag

Das zweite Beispiel (und einige andere) betreffen die Schreibweise meines Namens. Ich weiß, dass mein Name mit einfachem »i« verbreiteter ist als der mit »ie«. Doch wenn ich eMails von anderen Bereichsleitern bekomme, mit denen ich in der Vergangenheit bereits per eMail kommunizierte, oder wenn ich ein Paket mit Fahrradteilen von ebay empfange – und ebay hat dem Versender natürlich meine Anschrift korrekt mitgeteilt! – dann verstehe ich nicht, wie man den Namen falsch schreiben kann.
Ich unterschreibe meine eMails mit ihm.
Er steht korrekt im ebay-System.

Es geht nicht darum, dass jemand meinen Namen falsch schreibt, weil er die Schreibweise nicht kennen kann. Es geht darum, wie wenig wichtig ist, was ich vorher in eMails geschrieben habe, wie wenig aufmerksam sie lesen, wie egal ihnen das ist, wie wenig Anspruch sie haben.

Adressaufkleber

Das hat mit dem Pragmatismus zu tun, mit dem Hinschmieren und -rotzen von Output. Genau das wird überall vermittelt: Schüler haben ein Jahr weniger Zeit für ihr Abitur, es muss mehr Stoff behandelt werden in gleicher Zeit, weil man sonst nicht genug zum Unternehmensertrag beitragen kann und das ist, was ein guter Freund bereits vor Jahren in seinem Xing-Profil schrieb:

Totes Humankapital ohne Rendite

Mittelmaß bringt uns nicht voran. Mittelmaß ist wie das Mittlere Management im eigenen Saft: Absitzen der Zeit, nicht verhungern am langen Arm eines Arbeitgebers, für den Mittelmaß das ist, was wir überall sehen: Der Status Quo und genug, um Geld zu verdienen.

Pragmatismus und Mittelmaß sind Grabsteine des eigenen Anspruchs.

424.

Ich weiß eigentlich gar nicht mehr so genau, wie wir darauf kamen. Jedenfalls lenkte R. das Auto in Richtung Pass, als ich kurz vor dem Brenner die Strava-App öffnete und die Jaufenpass-Etappe der letztjährigen Transalp suchte. Strava ist ein soziales Netzwerk für Sportler und erlaubt, gefahrene oder gelaufene Strecken zu veröffentlichen. Diese Strecken erhalten Segmente und jedes dieser Segmente eine Rangliste: Man sieht die eigene Leistung im Vergleich mit der anderer Strava-Athleten, die dieses Segment ebenfalls absolvierten. Einige dieser Segmente sind besonders umkämpft: Meistens handelt es sich dabei um bekannte Teilabschnitte von Strecken, auf denen eine Vielzahl von Sportlern um den Titel der Queen of Mountain (QOM) bzw. des King of Mountain (KOM) kämpft. In den USA wurde Strava bereits von Hinterbliebenen eines Radfahrers verklagt, der beim Versuch, den Titel des KOM an sich zu reißen, tödlich verunglückt ist. Ein solch umkämpftes Segment trägt den Namen Jaufenpass OFFICIAL – from sign to sign.

Eine der ersten Kehren

Bergan auf den Pass

Genau dieses Segment suchte ich, weil wir irgendwie über die Zeiten sprachen, ich von Strava erzählte und weil der Jaufenpass am Nachmittag auf unserem Programm stand – vom Schwarzen Adler in Sterzing hinauf auf einen Apfelstrudel. Wenn man von Sterzing kommt und sich der Passhöhe nähert, passiert man erst das Jaufenhaus auf der linken Seite, ein größeres Restaurant mit umfassendem Angebot. Weiter oben steht eine kleinere Hütte, die Passhöhe liegt aber etwa dreißig Meter entfernt und mit ihr das obligatorische Schild »Jaufenpass – paso Giovo« und mit ihm das Endpunkt jenes Segments. An dem Schild steht erneut eine Hütte, die Apfelstrudel serviert und einen phantastischen Blick auf die Abfahrt in Richtung Meran bietet. Unsere Auffahrt jedoch aus Sterzing ist nicht einsehbar und letztes Jahr hielt ich aus diesem Grund an der zuerst erreichten kleinen Hütte in Passnähe und schloss das Segment nicht ab. Letzter, Platz 424. noch am Donnerstag Mittag. Entsetzen, weil ich es erst an diesem Vormittag entdeckt habe. R. lachte fünf Minuten am Stück.

Autofahrer neben Rädern

Apfelstrudel - das Ziel

Ich habe noch während der Suche nach dem Segment erzählt, dass diese Ranglisten mich nicht motivieren. Ein letzter Platz aus eigener Dummheit, wenngleich aus Versehen, für ein Jahr sichtbar für alle im Netz – doch, das motiviert. Und wenn ich das nächste Mal bergauf nicht anhalten muss, weil ich vor Aufregung zuviel Kaffee konsumiere, dann werde ich mich noch weiter verbessern!

Vaterland

Aus der Reihe »Veraltete Konzepte« präsentiere ich heute: Dynamo und Vaterland.

Vaterland

Das Rad stand etwas nördlich vor dem Türkenhof, eine Querstraße weiter hielt die Polizei eine offensichtlich irgendwie auf Drogen-seiende Frau fest. Ein junger Polizist trug einen gepflegten Führerscheitel, gegenüber frühstückte der Münchner Chic im Vorstadtcafé und fühlte sich vielleicht an seine RTL-II-Vorabendserien erinnert. 

Dort oben war das Vaterland.

Mendeln

Ich finde es zunehmend schwierig, mich für die Vorgänge dort draußen zu interessieren. Das fing irgendwann an mit einer Beobachtung im Urlaub, dass mir völlig egal ist, über was andere reden und um was sich andere kümmern. Ich meine damit Dinge wie irgendwelche übereuropäischen Gesangswettbewerbe, bei denen ein als Frau verkleideter Mann gewinnt. Es ist mir wirklich egal. Wir waren am Tag des Wettbewerbs zu Gast bei einer Freundin, die uns mit den Worten empfing, dass später noch andere kämen um diese Sendung zu sehen. Es war ein schöner Tag, der sich mit dem Sendebeginn ins Auto verlagerte und auf die Autobahn Richtung München. Wir tranken bei ihrem Bruder noch einen Tee, dem diese Sendung ähnlich egal war wie uns.

Den Mendelpass hinauf

Mendelpass

So war das auch in Italien. Wenn man den Tag auf dem Rad verbringt und irgendwann die Gedanken  schweifen lässt – weil Passfahrten eine meditative Sache sind, solange man nicht den Penegal hinaufkriecht auf fünfundzwanzigprozentigen Steigungen –, nimmt man zwar die Ergebnisse der Europawahl besorgt zur Kenntnis, aber Stuhlgewitter mit Schuldzuweisungen auf Twitter gehen an einem vorbei. Der einzige Grund, weshalb ich sie nicht völlig verpasste, ist der Freund, der davon erzählte, während er oben im Passcafé in seinem Tee rührte und ich gedankenverloren meinen Espresso genoss. Seltsam distanziert klingt das dann, nach Kleingeist und verletztem Stolz. Das passt nicht auf einen Pass.

Penegal

Ich

Alles ist seltsam weit weg bereits nach zwei Tagen.
Ich mochte eigentlich gar nicht zurück.

Circus Vienna

Da sitzen wir also, in Kaltern an der Weinstraße, im Regen. Die letzten beiden Tage hat die Sonne gebrannt, gestern noch kamen wir wegen Flüssigkeits- und Nahrungsmangel in einige Schwierigkeiten, aber auf den italienischen Dörfern findet man keine Pizzerien und nur selten kleine Cafés, die – wenn überhaupt – Brötchen bereithalten. Überhaupt haben viele Restaurants und Hotels hier geschlossen, die Häuser stehen sandsteinfarben am Rande der Straße und werfen die Hitze des Tages zurück auf die Fahrer. Mahnend, kommt es mir vor, schauen sie hinab auf die Radler.

Mendelpass am Abend

Oben am Mendelpass, den wir zweimal überquerten, bilden leerstehende Geschäfte und Hotels eine Wand, hinter der sich ein altes Grand Hotel erhebt. Als wir dort waren, reparierten ein paar junge Männer die Tennisplätze; irgendetwas tut sich hier oben. Weiter vorn, an der Bergstation der Zahnradbahn, bekommt man von dem Pächter einen Espresso zu italienischen Preisen. Und während er sich wieder seiner Wand zuwendet, die er neu streicht, schweift der Blick hinüber zu den Dolomiten. Dort hinten wartet ein lohnendes Ziel: Laurins Rosengarten.

Mendelpass mit Grand Hotel

Dreihundert Höhenmeter und eine bittere Steigung trennen uns noch vom Penegal, einem Gipfel mit einer Funkstation und einem Hotel mit dem Charme eines Bauwerks aus den Sechzigerjahren. In der Mittagshitze scheint dieses Hotel verlassen, doch die Webseite bietet Zimmer feil für Raten, für die man in München bestenfalls in Neuperlach ein Zimmer bekommt. Auch von hier streift der Blick, hinten am Horizont mit den schneebedeckten Gipfeln, die Rosengartengruppe, zu der wir hinübermurmeln Wir sehen uns noch.

Penegal

Sie wäre heute das Ziel gewesen, wenn sich nicht eingeregnet hätte. Doch ein Tag, den man mit Schreiben und Reisen verbringt, ist kein verlorener Tag.

Es irrt der Mensch, solang‘ er strebt

Gestern morgen erreichte mich der Anruf auf dem Rad an der Isar, dass unter unserer Wohnung Wasser von der Decke tropft. Aus mir nicht bekannten Gründen war das gestern nicht dringend, abends entdeckten wir dann die Wasserflecken unter der Spüle.

De Rosa AL+

Heute morgen erreichte mich der Anruf im Englischen Garten, in dem Moment, in dem mich ein Freund am Chinesischen Turm erreichte. Wir saßen dann in der Sonne, weil die Handwerker sich verspäten würden, und tranken in dem gerade eröffnenden Kaffee einen Espresso. Und seitdem bin ich mit Handwerkern umgeben: Innen stemmen sie die Rohre aus der Wand und draußen beginnen sie den seit Wochen gesperrten Balkon zu renovieren.

Colnago C50 am Wasser – das Rad für Italien

Übermorgen werde ich von oben auf den Kalterer See schauen und dieses Hämmern und den Gestank von Lösungsmittel verdrängen. Denn seine Ansage ist klar: Einen Pass sollten wir am Freitag aber noch schaffen!

Immer dieses Streben nach Hohem…

– t: Goethe

Am Krankenbett, Folge 4

Langsam kann ich wieder denken – was gut ist.
Ich habe fast eine Woche meine Kontaktlinsen nicht getragen – was gut ist (sonst hätte ich immer noch Apfelsaft im Auge).
Es blieben über die Woche einige Dinge liegen, die abzuarbeiten ich mich bemühe. Aber am Freitag fahre ich nach Italien in die Berge, und dies ist für das Abarbeiten ein gewisses Problem. Außerdem warten dort unten andere Sachen, auf die werde ich mich in der Lobby des Roten Adlers lieber fixieren. Und jene Sachen und die vorher angesprochenen Dinge sind grundsätzlich verschieden, sie schließen sich aus.

Privat

Im Bett liegen ist langweilig, wenn man den See nicht sehen kann und nicht die Berge. Mir schien die Krankheit dieses Mal lang, doch das wunderschöne Mädchen sagte: »wie immer«. So lange das Verdrängen noch funktioniert, bleibe ich auf der Seite der Sieger.

Fix you

Morgen sehe ich alte Freunde wieder, wir treffen uns achtzig Kilometer von hier vor den Toren von Augsburg. Die Wettervorhersage ist im Sinkflug, aber das ist nur das höhnische Lachen nach einer höhnischen Woche; das Wetter ist schlimm, aber natürlich, dochMenschen hasse ich heute ein bisschen mehr noch als Montag…

Ich bin entschlossen, die Strecke morgen auch wenn es regnet mit dem Rennrad zu fahren. Ich habe mir Dokumentationen angesehen über zwei Fahrradrennen, über Paris-Roubaix und über Lüttich-Bastogne-Lüttich, und fühle mich gut gerüstet für morgen. Ich habe meinen iPod aufgeladen mit Musik, die aus den achtzig Kilometern selbst bei Regen ein Kinderspiel macht.

Liege-Bastogne-Liege Orica GreenEdge

Und außerdem: Da ist ja noch die Energie der vergangenen Woche. Ich werde meinen Kessel heizen mit den Körpern der Schwätzer und Feigen, mit den lächerlichen Protagonisten des Systems, das man Wirtschaft nennt.

Einmal mit Menschen, auf die man sich verlassen kann…

– t: Coldplay

Bei uns auf dem Land

Ich habe nun in jenem seltsamen Zustand erreicht, in dem an sämtlichen Fahrrädern alle Kleinigkeiten und Einstellungen erledigt sind. Da war gestern noch einmal ein verregneter Nachmittag im Fahrradkeller, da war der zerlegte Antriebsstrang des Alltagsrads, der mich immer beim Anfahren an der Ampel oder draußen in der alten Heide neben dem Fußballstadion genervt hat, weil das Klacken die letzten Wildvögel verscheuchte, die von den Rollgeräuschen des Rades allein noch keinen Reißaus genommen hatten. Und weil dieses Rad ja nun Probe gefahren werden will – ja: muss! – sitze ich nun in diesem Café in der Nähe des kleinen Schlosses im Westen der Stadt und esse Tarte. 

Café Karameel, München

Unter dem geschwungenen Spiegel an der Wand gegenüber des Eingangs steht ein kleiner Tisch für zwei Personen. Daran haben sich vor wenigen Minuten zwei junge Männer niedergelassen; einer trägt ein weißes und einer ein blaues T-Shirt mit Ryan-Air-Aufdruck. In diesen Momenten würde ich gern mit dem Finger auf Menschen zeigen und rufen »Da da da«, damit auch sie all diese Situationen sieht, die mir täglich passieren. Und dann würden wir diskutieren und am Ende würde ich endlich den Satz widerlegen, dass auf dem Land auch solche Dinge geschehen.

Teich vor Deich

Auf dem Land, auf dem ich einmal lebe, geschieht dergleichen nicht. Dort entblödet sich niemand, mit einem Ryan-Air-T-Shirt zu sitzen, weil man zum Saufen schließlich in die Dorfkneipe geht und nicht den Billigflieger nimmt auf eine spanische Insel. Dort stehen keine betrunken Burschenschafter auf der anderen Straßenseite und singen nachts um halb drei und dort stehen sie nichts tagsüber in einer fünfzig Meter langen Schlange vor einer hippen Eisdiele, die in ihrem ,,Stammhaus’’ (wie das neu angeschlagene Schild nachdrücklich unterstreicht) für jede Kugel eineurofünfzig verlangt. Dass Herr Ballabeni eineurofünfzig verlangt, kann ich ihm nicht verübeln, nimmt er damit die Burschenschafter und die Münchener Schickeria aus und lässt sich seinen fünfmonatigen Winterurlaub finanzieren. Es ist nur blöd, dass auch mir sein Eis wirklich gut schmeckt.

Einspeichung hilft

Bei uns auf dem Land gibt es stattdessen eine direkte Auffahrt zum Pass und an den meisten Tagen des Jahres scheint bei uns die Sonne. Freunde kommen auf unseren Hof und wir versammeln uns abends vor dem alten Kamin.
Wenn du mich fragst, ich könnte nun umziehen, hier habe ich alles erledigt; die Räder wären soweit. Ich könnte höchstens noch die Bremsbeläge auswechseln. Aber wer braucht schon Bremsen?