Die kleine verschlafene Stadt an der Lahn, die bis zu ihrem Tod die Stadt meiner Mutter gewesen ist, gerät mir immer mehr in mein Leben.
Ich bin nicht weit entfernt von Wetzlar aufgewachsen, ein paar Kilometer die Autobahn entlang in Richtung Norden. In meiner Kindheit war Wetzlar eine der beiden Städte, in die man zum Einkaufen fährt. Aufgrund seiner Größe wurde jedoch oftmals das nicht weit entfernte (und: deutlich weniger attraktive) Gießen bevorzugt.
Die Stadt meiner Mutter wurde Wetzlar in den Jahren nach der Trennung meiner Eltern Ende der neunzehnhundertneunziger Jahre, als ich mein Abitur absolvierte und meinem Elternhaus den Rücken kehrte. In den Wirren des Lebens ging das von meinen Eltern gebaute Haus verloren und meine Mutter zog es in diese Stadt, in der sie schon viele Jahre arbeitete und, wie ich später erfuhr, hervorragend vernetzt gewesen sein muss.
Den guten Jahren folgten zwei schreckliche. Sie erfüllte sich einen Traum, den sie zu kurz (er)leben konnte. Ich besuchte Wetzlar häufiger als jemals zuvor und dennoch trage ich heute dieses Gefühl: zu selten.
Bevor diese Zeit begann, lebte ich nicht weit entfernt in Marburg, einer anderen Stadt an der Lahn, deren Stadtkerne sich ähneln. Marburg hat den Vorteil der zahlreichen Studenten, während die Wetzlarer Altstadt müde und leer scheint; wo in Marburg betrunkene Akademiker morgens um vier durch die Gassen schleichen, findet man in Wetzlar volltrunkene Hängengebliebene oder Schonimmerdortwohnende.
Wir lebten unsere Leben parallel, haben selten telefoniert, uns deswegen entfremdet. Nicht absichtlich, doch das passiert, wenn man nur wenig aus seinem Leben teilt. Meine Mutter wusste mich in guten Händen: ich war niemand, um den sie sich jemals zu sorgen brauchte. Und ich gestand ihr das gleiche zu.
Erst rückblickend wird mir klar, was ich in dieser Zeit für sie - als einziges Kind - gewesen bin, wie sie daran arbeitete, dass es mir (und schließlich meiner Familie) so gut gehen konnte wie jetzt. Sie hat sehr viel getan (heute bin ich unsicher: ertragen? vielleicht mehr für mich als für sich), das ich erst jetzt erkennen kann und das mich dankbarer werden lässt mit jedem Jahr. Ich habe ihr das nicht zeigen können zu Lebzeiten, doch hoffe, sie hat gewusst, dass ich dies in Zukunft verstehe. Ich unterstelle ihr: Vieles tat sie im Hinblick auf mich.
Mit der Stadt, in der ich aufwuchs, verbindet mich nichts mehr. Dort lebt niemand mehr, es lebt niemand mehr.
In Marburg verbrachte ich zehn gute Jahre meines Lebens. Die Menschen, mit denen ich wohnte, halten Kontakt, wir sehen uns mit seltener Regelmäßigkeit. Ich bin Marburg sehr zugeneigt, weil ich tolle Geschichten erinnere und Freunschaften herumtrage aus dieser Zeit, einige der wichtigsten meines Lebens.
Doch zu Wetzlar verspüre ich eine tiefere Bindung; noch nicht sehr lange, aber sie wird intensiver. Eine ererbte Verantwortung, die schwerer wird, wichtiger über die Zeit. Kurz vor ihrem Tod fragte mich meine Mutter, was ich plane. Ich sagte ihr ehrlich, das wisse ich nicht. Heute spüre ich das Bedürfnis intensiver denn je, diese Verbindung nicht abreißen zu lassen, so lange ich kann. Aus Dankbarkeit meiner Mutter gegenüber. Und für meine Töchter.