Wir sind nicht häufig hier in diesem kleinen Ort, der sich ins Tal duckt wie eine Katze auf Beutefang. Hier kommt man nicht zufällig hin, fast unsichtbar ist man für die Autofahrer, die jenseits des Nachbardorfs auf der Autobahn zwischen den beiden größeren Städten pendeln, die man von hier aus für den Wochenendeinkauf besucht.
Ich habe zehn Jahre meines Lebens in der kleinen Studentenstadt verbracht, die man in etwa zwanzig Minuten erreicht. Doch auch zu dieser Zeit war ich nicht wirklich häufig in dieser Fachwerkidylle, in der sich die pittoresken Einfamilienhäuser an die Hauptstraße schmiegen, die am Dorfrand einen kleinen Bach überquert, der dieser Einöde seinen Namen verleiht.
An Wochenendtagen bin ich stets der letzte, der aus dem Obergeschoss herunterkommt und von den anderen zum Frühstück erwartet wird. Hier hat alles seine Ordnung; auch wenn ich den ersten Kaffee des Tages lieber im Bett trinken würde ist dies eine Unmöglichkeit.
Während ich mich am warmen Getränk festhalte, setzt die alte Maschine in der Küche zur zweiten Runde an, die mit meinem zweiten Kaffee viele Minuten später endet. Nicht zu spät, denn samstags stehen Besorgungen an: Eier vom Bauernhof am Ende der Straße (wie jeden Samstag), Honig vom Nachbarn am Dorfplatz (nur wenn wir hier sind). Und der Besuch bei jener alten Dame, die schräg gegenüber des kleinen Spielplatzes an der Brücke wohnt und die uns erwartet.
Unser Besuch spricht sich herum.
Eine Reise zu einem Elternteil ist - neben einer Reise in eine andere Welt - auch immer ein Besuch der eigenen Vergangenheit. Dieses Mal legt man ein mir unbekanntes Foto vor. Ich erkenne mich sofort und meine Mutter im Hintergrund auf der Baustelle jenes Hauses, in dem ich meine Schulzeit verbringen werde. Neunzehnhundertfünfundachtzig oder neunzehnhundertsechsundachtzig.
An diesem Ort bin ich lange nicht gewesen. Am Vormittag der Beerdigung meines Großvaters, mit der die Zeit meiner Familie dort endgültig zu Ende ging (genaugenommen war sie bereits zu Ende, da mein Großvater einige Jahre vor seinem Tod in eine andere Stadt gezogen ist, doch sich wünschte, seine letzte Ruhestätte neben meiner Großmutter zu finden) habe ich mein Auto auf dem kleinen öffentlichen Parkplatz abgestellt, den ich als Kind nie wahrgenommen habe. Schräg gegenüber beginnt die Sackgasse, in der mein Elternhaus steht, das seit zwanzig Jahren nicht mehr im Besitz meiner Familie ist.
Ich bog in den kleinen Trampelpfad hinter dem Haus meiner ehemaligen Nachbarn ein, ging durch den kleinen Wald, dessen Wege mir als Kind endlos breiter vorkamen als an jenem Vormittag. Ich fand den Felsen mit dem Loch, wo wir als Kinder zündelten und an dem ich meine Armhärchen in einer Stichflamme verlor. Über die Straße, hinter dem Sportplatz entlang und über den Zeltplatz hinein in den Wald, in dem wir als Grundschüler im Heimatunterricht Staudämme bauten und Nistkästen aufhängten.
Die große Spazierrunde meiner Großmutter, die sie viele Jahre lang zurücklegte mit dem Berner Sennenhund meiner Kindheit und schließlich noch viele Jahre allein. Wenn ich oben von "meiner Familie" spreche, beziehe ich mich auf die Familie, die mich in meiner Kindheit umgab. Von ihr ist niemand mehr übrig als mein Vater und ich.
Ein schönes Foto. Mit meiner Mutter im Hintergrund. Sie ist bereits mehr als sechs Jahre tot. Manche Fotografien wirken wie Zeitmaschinen. Und wenn ich mich darauf einlasse kann ich es immer noch spüren.